Foto: Nilz Böhme

Am 01. April 2016 erlebte Moskauer Eis, geschrieben von der Magdeburger Autorin Annett Gröschner, seine Premiere im Schauspielhaus. Die Inszenierung Lydia Bunks erschafft für die Familie Kobe einen Warteraum über mehrere Jahre. Ordnung spielt im Ablauf der Geschichte eine geringere Rolle als für manche Figur des Stücks. Mittels authentischer Dekoration wie dem Sandmännchen oder original DDR-Weihnachtsbaumschmuck wird ein Gefühl für die Zeit geschaffen. Hinzu kommen Kargheit und Gefrierkombinationen, die eine Grundkälte in der Beziehung der Protagonist*innen verdeutlichen und allgegenwärtig werden lassen. Bodennebel sowie Schneestaub auf den Schränken haben einen weiteren Anteil am Stimmungsaufbau (Ausstattung: Christiane Hercher).

In dieser Umgebung agieren die Personen nachvollziehbar und überzeugend. Allen voran Marie Ulbricht als Annja Kobe, die den diesjährigen Förderpreis für „Junge Künstler“ des Förderverein Theater Magdeburg e.V. in der Kategorie Schauspiel erhalten hat. Annja ist ein Papa-Kind. Viel mehr erfahren wir nicht über sie, denn die Geschichte ist geprägt von ihrem Vater (Raphael Kübler) und dessen Arbeit im Institut für Kältetechnik sowie den Einfluss dieser Beschäftigung auf seinen Alltag. Exakt, gewissenhaft, penibel mit einer „Vorliebe für Sport und Gefrorenes“. Highlight und essentielles Beispiel dieser Attribute ist seine Schritt für Schritt-Anleitung zur Kaffeeherstellung. Auch artistisch lässt sich die Darstellung Raphael Küblers loben. Eine weitere innige Beziehung führt Annja zu ihrer Großmutter (Michaela Winterstein), die nun nach der Wende mit Demenz und weiteren Alterserscheinungen zu kämpfen hat. Als Annjas Vater verschwindet, ist sie die einzige verbliebene Familienangehörige und der Grund, warum Annja in ihre Heimat Magdeburg zurückkehrt.

Ich sitze seit drei Tagen in Großmutters Wohnung und warte, dass etwas passiert.

Dies ist der Anfang der Geschichte, die sich im Folgenden aus der Vergangenheit speist und u.a. abstruse Einkaufsvorgänge kreativ verbindet mit einer Lesung aus dem Roman, den die Zuschauenden gerade in diesem Moment als Bühnenfassung vor sich sehen. Oft finden wir uns dabei selbst in der Geschichte wieder, schmunzeln ob der Präzision, überraschender Alkoholverstecke und interessanter Wortschöpfungen. Katastropheneis ist, was entsteht, wenn pflanzliche statt tierische Fette bei der Eisherstellung genutzt werden. Der volkseigene Eskimo ist nicht in der Lage zwischen Arbeit und Feierabend zu unterscheiden. Die Eiskremhure (Susi Wirth) bricht auf nach Berlin, bevor sie an Emotionsarmut zu Grunde geht. Nicht zu vergessen der Nationalpreis für Vakuumgefriertrocknung, wobei das ganz logisch klingt, nur irgendwie fremd.

Sobald sich die Zuschauenden an die Zeitsprünge gewöhnt und die vielfach genannten Familienmitglieder in einem inneren Stammbaum in die richtige Position gebracht haben, ist es möglich, zwischen den Zeilen zu lesen, versteckte Symbole wahrzunehmen und Andeutungen zu interpretieren. Ein bisschen fantastisch und mit einem Hauch an Irrsinn schildert „Moskauer Eis“ das Portrait einer Magdeburger Familie.