„Niemand in meinem Umfeld kann sagen, ihr wäre das noch nicht passiert“, sagt Lys Ziebell, die selber auch schon Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt gemacht hat. Sie und ihre Freundin Janina Hofmann wollen durch ihre Initiative „Wir sehen hin“ Aufmerksamkeit für das Thema generieren. Im Juli gingen Website und Instagram-Kanal online und zeigen seither Berichte von Erlebnissen sexualisierter Gewalt in Magdeburg. Die Internetpräsenz soll als Sprachrohr für Opfer dienen und bietet darüber hinaus Fakten und Informationen zu Orten, an denen Betroffene Hilfe erhalten können.

Lys Gefühl, dass fast jede weiblich gelesene Person in ihrem Umfeld schon sexuelle Belästigung erlebt hat, spiegelt sich auch so in einer Studie der Hochschule Merseburg aus dem Jahr 2020, die im Auftrag des Innenministeriums von Sachsen-Anhalt entstanden ist, wider. Dort gaben 97 Prozent der befragten Frauen und 95 Prozent aller diversgeschlechtlichen Befragten an, schon einmal Erfahrungen mit sexueller Belästigung gemacht zu haben. Bei den Männern waren 55 Prozent bereits betroffen. Welche unterschiedlichen Erfahrungen es in Bezug auf dieses Thema gibt, zeigt in Magdeburg seit Juli „Wir sehen hin“. Anonymisiert und optisch aufbereitet veröffentlichen Lys und Janina die Berichte, die sie zugeschickt bekommen. Das Feedback der ersten Monate ist durchweg sehr positiv. Unangemessene Kommentare gab es nur vereinzelt, worauf die beiden Studentinnen auch sehr achten, damit Opfer von sexualisierter Gewalt einen Raum erfahren, in dem sie sich wohlfühlen und vielleicht sogar Unterstützung finden können. So kam es in den Kommentaren zu einzelnen Postings auch schon zum Austausch unter den Followern.

© Vincent Leib

Nach einer sechswöchigen Vorbereitungszeit stellten die beiden Studentinnen Anfang Juli ihre Internetseite und ihren Instagramaccount online. Hier haben sie schon über 600 Abonnent*innen. Die Beiträge zeigen die unterschiedlichen Erfahrungen, die Menschen in Magdeburg gemacht haben. Örtliche Nähe und Vielfältigkeit sind Lys und Janina sehr wichtig, um deutlich zu machen, dass sexualisierte Gewalt in unserem Alltag stattfindet und so viele verschiedene Gesichter hat.

Betroffene berichten von unangemessenen Kommentaren und Beschimpfungen aber auch von körperlichen Angriffen. Ebenso wie die Erfahrungsberichte, sind auch die Personengruppen, die von sexualisierter Gewalt berichten, sehr unterschiedlich. Zwar ist es ein Problem, das überwiegend Frauen und diversgeschlechtliche Menschen betrifft, aber auch Männer teilen ihre Erlebnisse bei „Wir sehen hin“. „Gerade bei ihnen sind Erfahrungen sehr stark mit einem Stigma behaftet“, betont Janina und geht hier deshalb von einer hohen Dunkelziffer aus. Knapp zehn Prozent der 60 Erfahrungsberichte, die bisher eingereicht wurden, kamen von männlich gelesenen Menschen.

Was als eine wage Idee startete, entwickelte sich in wenigen Monaten rasant: Janina und Lys haben mittlerweile ein kleines Team, dass sie bei den zahlreichen Aufgaben unterstützt, und befinden sich aktuell in der Vereinsgründung. Weitere Helfer*innen für das Projekt können die beiden Studentinnen gut gebrauchen, denn sie haben große Pläne. Sie wollen das Konzept weiter ausbauen und irgendwann ihre Botschaft auch in andere Städte weitertragen. Unter anderem ist außerdem eine begehbare Galerie geplant, in der Erfahrungsberichte und Fakten geteilt werden. Auch die Durchführung von Selbstverteidigungsworkshops steht im Raum. Denn Janina und Lys wollen nicht nur Aufmerksamkeit generieren, sondern auch Lösungsansätze bieten, nicht nur für Opfer, sondern auch Täter*innen. Das Bewusstsein aller soll geschärft werden, um sexualisierte Gewalt zu erkennen, einzugreifen und so zukünftig verhindern zu können.

Mit „Wir sehen hin“ haben Janina und Lys einen Weg gefunden, etwas gegen ein Thema zu tun, das sie selbst seit Jahren beschäftigt. „Es ist jedoch ein strukturelles Problem, das tief in der Gesellschaft verankert ist“, macht Janina deutlich. Deshalb müsse man auch an vielen verschiedenen Stellen angreifen, um eine Veränderung herbeizuführen. „Das können wir nur gemeinsam schaffen“.