Der Knopf an ihrem Armband blinkt rot. Immer wieder rot. Vielleicht ist es nur ein Fehler, dass er leuchtet. Es hat sich schließlich noch niemand gemeldet. Es ist jetzt das zweite Mal, dass Erika den Knopf gedrückt hat. Diesmal nur aus Versehen. Das letzte Mal aus Not. Sie fiel in der Dusche und konnte nicht mehr aufstehen. Das Shampoo war trotz Badematte einfach zu rutschig. Und das hatte Folgen: ihr linkes Bein war vollkommen abgeschrammt, ihre Knöchel verstaucht und überall dunkle Blutergüsse. Laufen ging noch weniger als vorher, ein Rollator musste her. Zum Glück hatte niemand, außer ihrer Tochter, das Elend gesehen. Sie holte Erika nach dem Sturz aus der Dusche. Auch wenn sie den Knopf erbärmlich findet, sie muss ihn tragen. Er ist eine Altershilfe, eine Möglichkeit im Notfall erst die Familie und dann den Notarzt zu informieren. Falls sie Hilfe braucht. Denn allein schafft sie es nicht mehr. Ihre Knochen sind brüchig und ihre Kraft ist aufgebraucht.

Erika ist 86 und pflegebedürftig. Sie wollte es immer werden, aber nicht sein: alt. Die Rentnerin sitzt auf ihrer dunkelgrauen Ledercouch und schaut in Richtung des Fernsehers. Ihre Augen sind klein. Die Brille liegt weit entfernt von ihr. Sehen kann sie sowieso nichts, denn sie ist halb blind. Alle ihre Sinne sind eingeschränkt. In ihrem Gesicht zeichnet sich Einsamkeit ab. Ihre buschigen Augenbrauen, die raue Haut und die wenigen eingewachsenen Haare über ihrer Lippe zeigen, dass sie eher selten Besuch bekommt. Die einzigen regelmäßigen Besucher sind die Pflegekräfte ihres Pflegedienstes.

Sie selbst hat ihre Wohnung seit vier Jahren nicht mehr verlassen. Dafür ist ihr Körper zu kaputt und die Treppen sind zu viele. Früher, so schwelgt sie in Erinnerungen, wohnte sie in einem großen Haus am See, mit Garten und Grillecke und der eigene Steg nicht weit entfernt. Doch das war einmal. Zu viel Arbeit für eine Witwe. Jetzt lebt sie hier in Brandenburg, im sechsten Stock in einem Neubau ohne Aufzug. Trotzdem will sie hier nicht weg. Denn ein Heim kam für sie nicht in Frage, zu teuer und wer weiß, wie die da mit ihr umgehen würden. Wenigstens ein bisschen Entscheidungsfreiheit brauche sie noch. Denn zwischen Pflegedienst früh, Lieferservice mittags und Pflegedienst abends, bleiben ihr nur wenige Entscheidungen, die sie selbst treffen kann.

Sabine arbeitet bei dem Pflegedienst, der Erika betreut. Heute ist sie schon wieder zu spät. Zwar nur drei Minuten, aber trotzdem: es sind drei Minuten. Sie ist eine von 1,9 Millionen Pflegekräften in Deutschland und jetzt schon seit mehr als 25 Jahren im ambulanten Pflegedienst. Der Job hat viele Höhen und Tiefen. Sie muss sich täglich neu auf die Eigenarten der Patienten einstellen – und andersherum. Von 358 Patienten, die der Pflegedienst „Pflegetraum“ betreut, kennt Sabine 250 persönlich. Sie weiß, dass es auf das Verhältnis zueinander ankommt. Im Pflegedienst wird nicht gekünstelt. Wie gut sich die Pflegekräfte mit ihren Patienten verstehen und wie eng die Beziehung zueinander ist, kann nicht geschauspielert werden. Es kommt nicht darauf an, wie freundlich und gut gelaunt sie ist, sie muss auf die Patienten eingehen. Oft geht es nur um Kleinigkeiten, die riesigen Ärger hervorrufen können. Einigen Patienten könne sie es nie recht machen.

Irgendwann kommt der Zeitpunkt, an dem wir alle Hilfe benötigen. Beim Autofahren, beim Einkaufen, im Haushalt und dann sogar bei den einfachsten Sachen. Und das ist das Problem, wenn man auf Hilfe angewiesen ist. Die Freiheit des Menschen über sich selbst zu entscheiden nimmt ab. Hilfe anzunehmen kann schwer fallen, besonders wenn es fremde Menschen sind, auf die man sich verlassen muss. „Früher war das einfacher, da lebte man mit drei Generationen in einem Haus. Die Familie fing einen auf und man war nie allein. Wenn es einem schlecht ging, kam man ins Krankenhaus und starb“, Erikas Stimme zittert. Sie richtet sich auf und zupft ihr blumiges T- Shirt zurecht. „So war das eben. Die Menschen wurden ja nicht so alt. War vielleicht besser so.“

Es klingelt an der Tür. Es ist der Lieferservice. Immer zur Mittagszeit bekommt Erika ihr Essen geliefert, denn auch kochen kann sie nicht mehr. Das lange Stehen in der Küche sei nicht auszuhalten. Und zu groß ist die Gefahr, dass etwas anbrennt, sie die Herdplatte anlässt und die Wohnung abfackelt. Heute gibt es Kartoffelsuppe. Sie ist froh, etwas das sie essen kann. Bei Gicht und Diabetes ist der Speiseplan ziemlich schmal.

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Obwohl viele Patienten es nicht wahrhaben wollen, dass sie Hilfe benötigen, sind sie letztendlich doch für jede Unterstützung dankbar. Besonders wenn die Angehörigen weit weg wohnen, sind Pflegekräfte wie Sabine für die meisten die einzige Kontaktperson am Tag. Viele Patienten seien redebedürftig, was in der kurzen Pflegezeit eine Herausforderung sei. Denn die Pflegeleistungen dürfen nur eine gewisse, vorgegebene Zeit beanspruchen: Haarewaschen zehn Minuten, Körperpflege 25 Minuten und Zubereitung einer Mahlzeit circa elf Minuten. Die Uhr läuft, sobald Sabine die Tür öffnet und die Wohnung betritt. Mehr Zeit ist nicht drin.

Sabine ist gestresst. Ihre blond gelockten Haare bewegen sich im Takt ihres zügigen Ganges. Mit jedem Schritt, mit jedem Einknicken ihrer Kniekehle, fällt ihr Haar anders. Viel Zeit bleibt nie. Zwölf Patienten muss sie bis zum Mittagessen versorgt haben. „Ich konzentriere mich nur darauf, dass ich alles schaffe. Alles andere läuft automatisch“, sagt sie während sie aus dem Auto steigt und in Richtung Wohnungseingang läuft. Dabei ist es gerade das, worauf die Patienten besonders streng achten: die Zeit. Unpünktlichkeit oder Hektik sind der größte Vertrauensbruch. Obwohl Sabine weiß, wie sie mit ihren Patienten umgehen muss und welche verschiedenen Bedürfnisse jeder einzelne hat, kann immer etwas schieflaufen. Planen kann sie in der Pflege nicht, „du weißt ja nie, was dich hinter der Tür erwartet.“ Von Unfällen bis hin zum plötzlichen Tod – sie hat schon alles erlebt. Doch was für ihre Patienten ein zu Hause ist, bleibt für für sie der Arbeitsplatz. Und das ist auch gut so.

Sie stürmt die Treppen hoch, erledigt ihre Arbeit, stürmt herunter und weiter geht’s. Weniger als 20 Minuten braucht sie im Durchschnitt pro Patient. Der Rest ist Fahrtweg. Sie lacht und macht das Radio an. Es läuft Popmusik: ihre fünf Minuten Auszeit. Sie scheint glücklich zu sein, zumindest für einen kurzen Moment. Die Schuhe lässt sie immer an, oft ist es zu dreckig in den Wohnungen, die sie besucht. Denn Ordnung und Sauberkeit sind relativ. Wie ordentlich etwas ist, empfindet jeder selbst. Sabine lacht. „Manchmal wird einem echt übel.“ Wenn angebissene Bananen wochenlang in Küchenschränken liegen, Tiere in der Wohnung herumspazieren oder die Möbel vor schwarzen Gärfliegen nicht mehr zu erkennen sind, muss sie das ansprechen. Trotzdem – das Recht auf Verwahrlosung hat jeder Mensch.

Aber es gibt auch Überraschungen. Sie holt eine Zigarette aus der Schachtel und zündet sie an. Kurz mal durchatmen. Zigaretten kauft sie ausschließlich in Polen. Da sind sie billiger. Denn mit einem Durchschnittsgehalt von 2.490 Euro brutto für Pflegekräfte, kann das Geld am Ende des Monats knapp werden. Vor zwei Wochen so erinnert sie sich, erlebte sie etwas ganz Besonders. „Da muss ich gleich wieder heulen. Das war wirklich schön.“ An ihrem 49. Geburtstag fuhr sie wie gewohnt, eine ihrer frühen Touren. Sie klingelte bei einer Patientin, bei der sie viele anstrengende Pflegeleistungen machen sollte. Doch statt die Tür aufzuschließen, um ihren Dienst anzufangen, wurde sie von ihr empfangen. In der Wohnung roch es nach frisch gebrühtem Kaffee. Die Patientin, die sie pflegen sollte, war früher aufgestanden, um alle Dienste selbst zu erledigen und bat Sabine ins Wohnzimmer. Auf dem Tisch: Kaffee, Blumen und Geburtstagskuchen – selbst gebacken, extra für Sabine. „Sie hat alles allein gemacht. Sich aus dem Bett gequält und sich angezogen, nur dass ich mit ihr frühstücken konnte. Ich weiß, wie schwer das für sie war.“

Das sind Momente der Dankbarkeit. Dann erlebt Sabine wie wertvoll ihre Arbeit ist. Die Patienten kennen sie und sie kennt ihre Patienten. Sabine kennt das Intimste dieser Menschen, sieht täglich Familienfotos, weiß was in den Kühlschränken dieser Menschen ist und kennt alle Nuancen der Gerüche ihrer Wohnungen. Einige muss sie sofort lüften, andere sind mit herbem Parfüm übertüncht. Dank Corona nimmt sie die Gerüche weniger wahr. Sie trägt durchgehend Maske.

Dass die Pflegekräfte Masken tragen, stört Erika nicht. Sie kann die Gesichter schon lange nicht mehr erkennen. Sie achtet auf die Stimmen der Pflegekräfte. Manchmal rät sie nur, wer vor ihr steht. Denn das Personal wechselt ständig. Sie hört sechs verschiedene Stimmen in einer Woche und weiß nie, wer wann kommt. An eine Sache kann sie sich jedoch nicht gewöhnen. „Es ist ulkig, wenn sie mich auf private Sachen ansprechen. Es geht sie doch gar nichts an, wie meine Enkelkinder heißen und was mit meinem Mann war. Ich weiß doch auch nichts über ihre Familie.“

Es stört sie nicht mehr, wenn das Personal plötzlich mitten in ihrer Wohnung steht. Es stört sie nicht mehr, wie ordentlich es aussieht oder welche sie Kleidung trägt. Sie hat sich an die Situation gewöhnt. Weil sie darauf angewiesen ist. Mit der Pflegestufe vier von fünf, musste auch Erika sich eingestehen, dass sie Hilfe braucht. Auch wenn das heißt, einen Knopf am Handgelenk tragen zu müssen.

Manchmal wenn sie weiß, dass ihr Lieblingspfleger kommt, legt sie ihm eine Bockwurst in die Küche. Das ist wohl ihre Art zu sagen: Ich bin dankbar, egal wie ich mich manchmal verhalte.