Unentdeckt und doch ganz deutlich hockt die Ameise im Norden der Stadt. Sie wohnt zwischen der Haltestelle und dem Supermarkt am Neustädter See. Sie ist groß – gar riesig – und trotzdem nimmt sie kaum jemand wahr. Ihre kleinen schwarzen Fliesen heben sich von den rechteckigen grauen Pflastersteinen des Platzes ab. Sie ist flach in den Boden eingelassen. Auf ihrem Rücken ist eine Metallplatte, die sich mit der Zeit eingebeult hat – dort sammelt sich der Müll der vorübergehenden Menschen: Zigarettenstummel und Kaugummipapier liegen in einer grauen Pfütze vom letzten Regen. Manchmal sitzen ein paar Tauben auf ihrem Rücken und fressen Krümel, die vorübergehende Menschen fallen gelassen haben. Sie haben keine Angst vor ihr und sie auch nicht vor den Vögeln. Radfahrer und Fußgänger eilen über den Platz, keiner merkt den Unterschied auf dem Boden. Die Straßenbahn hält und Menschen eilen in die Wohnhäuser. Das Piepen der Fußgängerampel wechselt sich mit dem Autolärm ab. Alle scheinen es hier eilig zu haben.
Es gibt auf dem Neustädter Platz insgesamt sechs Bänke mit jeweils drei Sitzflächen, aber nur selten ist eine davon besetzt. Manchmal stehen ein paar Jugendliche um eine dieser Bänke herum, andere Male sieht man zwei ältere Damen unter einem Baum sitzen und einen Kaffee trinken. Aber jetzt – mitten im kalten Februar – sitzt niemanden auf den Bänken. Die Menschen haben zu tun und müssten schnell – immer schneller – ihr Ziel erreichen. Wie kleine fleißige Ameisen.
Den Platz ziert noch ein Brunnen – der Märchenbrunnen –dieser ist in bunten Farben und mit Säulen gestaltet. Bunte Kugeln aus Keramik sind übereinandergestapelt und werden größer und kleiner. Sie ragen so hoch, wie die Bäume, die am Rande des Platzes eingelassen wurden. Rot, Grün und Blau leuchtet das Mosaik der Säulen in der Kälte. Eine gelbe Kugel ziert ein freundliches Gesicht aus schwarzen Steinchen. Wasser ist schon lange nicht mehr da und der Müll sammelt sich in dem einst so schönen Brunnen.
Die Märchenpassage grenzt den Platz zur anderen Seite ein. Ein Supermarkt und ein Bäcker haben geöffnet, der kleine Euro-Shop und der Friseur haben geschlossen. In einer Ecke ist ein Lottoladen, dessen einziges Fenster mit großen Werbeplakaten verklebt ist. Auf der anderen Seite der Eingangstür ist eine Versicherungsbüro und ein Bestattungsunternehmen. Die kleinen Eingänge sehen verlassen aus. Spinnenweben finden sich in der Tür.
Die großen Ladenzeilen sind leer und man kann durch die Scheiben auf den Betonboden und die herunterhängenden Kabel schauen. Im Fenster kleben Zeitungen aus vergangenen Zeiten. Von Märchen ist hier nichts mehr zu spüren – die Zeiten sind wohl vorbei.
Der Platz mit seiner Passage ist flach. Die Bäume wurden mal gestutzt, aber auch darum kümmert sich niemand mehr. Ringsherum stehen Plattenbauten mit zehn Etagen – pro Etage vier Wohnungen. Sie ziehen sich in endlos langen Zügen, mit bis zu zehn Eingängen, die Straßen entlang. An der nächsten Ecke geht es genau so weiter. Es erinnert an einen Ameisenbau. Ein Labyrinth aus Betonblöcken. Als die Wohnblöcke in der DDR-Zeit gebaut wurden, nannte man sie Arbeiterschließfächer. Wohnanlagen im Massenabfertigungsstil.
Neben der Ameise steht eine Bank mit drei Sitzflächen. Sie ist aus Metall und jetzt, in den Wintermonaten – hängen kleine Eiszapfen von den Metallrohren herunter. Von dort aus kann man über das Insekt im Boden zur Straßenbahnhaltestelle und bis auf die andere Straßenseite schauen. Eine ältere Frau schiebt ihren Rollator über den Platz und bleibt kurz hängen. Sie schaut auf das schwarze Hindernis unter ihrem Rad und steigt in die Straßenbahn, die gerade zum Halten gekommen ist.
Die Geschichte des Insekts steht auf einem kleinen Schild zu ihrem Kopf. Es ist beschmiert mit Graffiti und so unbrauchbar, wie die zerstörte Telefonzelle daneben. Ein Briefkasten, voll grüner Farbe ist das einzige noch Nützliche an dieser Stelle.
Die wenigstens bleiben stehen, wie die beiden Männer. Sie stehen auf dem Kopf des Insekts und unterhalten sich. Die Dose in der einen und die Zigarette in der anderen Hand. Ob sie wissen, dass diese Ameise sie einfach davontragen könnte mit ihren drei Meter Länge? Ob sie die Ameise überhaupt wahrnehmen? Sie unterhalten sich. Die Frau hätte ihn verlassen, jetzt weiß er nicht wohin mit sich. „Hauptsache raus aus der Bude, Mann“. Der andere macht ein Schnalzgeräusch mit der Zunge, „Kommst‘e mit zu mir“. Sie treten die Zigaretten auf dem Kopf der Ameise aus und gehen weiter. Auch diese Stummel landen in der Metallkule auf ihrem Rücken. In der Ferne hört man beide Männer wieder lachen. So schlimm kann es nicht sein.
Wolfgang wirft einen Brief ein und bleibt dann vor der kaputten Telefonzelle stehen, „die haben hier alle viel zu viel Zeit, um Dinge kaputt zu machen“, er schüttelte den Kopf. Wolfgang ist Mitte 70 und wohnt am Neustädter See, seit die Wohnblöcke in den 1970ern gebaut wurden. „Früher war hier alles Gartenanlage – den HO gabs schon immer für die Gärten“, er zeigt auf die Einkaufspassage am Ende des Platzes. Mit HO meint er die Handelsorganisation der DDR, „damals hieß der Platz auch noch Paul-Markowski-Platz“, nach einem Funktionär der SED. Auch der See, der das Wohngebiet auf der einen Seite begrenzt, ist in der DDR entstanden, nachdem dort Kies abgebaut wurde. Der ältere Herr entschuldigt sich, „meine Frau wartet auf ein warmes Mittagessen“, dann geht er zu dem Broilerstand, und begrüßt den Verkäufer. Kurz darauf kommt Wolfgang zurück – er hat eine Tüte im Arm. „An der Endhaltestelle Neustädter See gibt’s eine Kirche“, er deutet mit der freien Hand zum See, „da gibt’s eine Ausstellung über den Stadtteil“, dann winkt er und geht nach Hause. Immer freitags stehen auf dem Platz die drei kleinen Verkaufswägen. Ein Fleischer, eine Fischverkäuferin und ein Broilerstand. Wenn kein Kunde da ist und der Platz leer – treffen sich die Verkäufer zwischen den drei Wägen und unterhalten sich. Es riecht nach einer Mischung aus Meer und Grill. Die Fische liegen bei der Verkäuferin auf Eis, der Fleischer bietet noch Kaffee und Mettbrötchen an und bei dem Broilerstand drehen sich die goldenen Hähnchen am Spieß. An diesem Freitag im Februar ist es kalt – das Geschäft läuft schlecht – nur der Broilerstand hat immer ein paar Kunden um die Mittagszeit. Dann geht der Verkäufer in seinen Wagen und schiebt eines der Hähnchen vom Spieß in eine Plastiktüte mit rotem Aufdruck, wickelt es in eine zweite, weiße Tüte ein und reicht es über den Tresen.
Ein junges Pärchen tritt an den Imbisswagen. Sie sind beide 16 und kommen gerade aus dem Penny in der Märchenpassage. Jessica stellt sich etwas abseits auf den Platz und wartet auf ihren Freund. „Wir wollen nur schnell was zum Mittag holen“, in der Hand hält sie eine Tüte rohe Spaghetti, die sie sich nach und nach wie Chips in den Mund schiebt. Es knackt unangenehm als sie die Nudel abbeißt. Die beiden haben eigentlich Home-Schooling, aber das ist zu langweilig. Jessica ist vor kurzem mit ihrer Mutter in das Wohngebiet gezogen und ist gern am Neustädter See. Ihr Freund und sie kommen oft auf den Neustädter Platz. Vor allem jetzt, seit Covid-19, holen sie sich hier immer etwas zum Mittagessen bei Penny. Dann nimmt sie eine neue Spaghetti aus der Packung und knabbert daran, „immer schade, dass es hier so schmutzig aussieht“, sagt sie und deutet auf die Fassaden der anliegenden Gebäude, die voller Graffiti sind. Sie findet den Märchenbrunnen auf den Platz sehr hübsch – die Ameise kennt sie allerdings nicht, „eine Sage gibt’s da? Verrückt? Kannst du die mal erzählen?“
Ihr Freund kommt zurück und hat einen duftenden Beutel mit Brathähnchen im Arm. Die beiden laufen in die Wohnsiedlung, damit ihr Essen nicht kalt wird. Als sie sich umdrehen, hält sie ihm die Spaghetti hin und er nimmt sich eine heraus.
Wieder eilen Leute aus der Straßenbahn und in die Einkaufspassage oder ins Wohngebiet. Einige bleiben noch kurz an dem Imbisswagen stehen und die Verkäufer haben wieder Kunden. Zwei Kinder laufen über den Platz – sie jagen sich, bevor eines von ihnen vor der Ameise stehen bleibt und darauf zeigt. Doch die Mutter zieht es weiter zum Supermarkt. Sie trägt die kleinen Rucksäcke der Kinder in der Hand. Einer blau, einer grün. Auch sie interessiert sich nicht für das Tier. Mittlerweile riecht es auf dem Platz nach frischen Brötchen. In der kleinen Passage gibt es einen Bäcker, bei dem gerade die Backwaren aus dem Ofen kamen und der Geruch zieht auf den Platz, immer, wenn sich die Türen der Passage öffnen.
Die Bäckerin steht hinter dem Glastresen, vor ihr eine Glaswand, die mit A4 Zetteln vollgeklebt ist. „Zutritt nur mit Maske“ und „Wenn möglich passend Zahlen“ steht dort in drei Sprachen. Man sieht sie dahinter kaum. Sie ist klein und trägt eine weiße Schürze mit dem Namen des Bäckers als Aufschrift.
Sie brüht gerade einen Kaffee auf, „da draußen ist eine Ameise? Noch nie mitbekommen. Ist die denn groß?“, sie stellt den Becher auf den Tresen und tippt das Geld ein, „sowas bekommt man gar nicht mehr mit. Richtige Arbeitsblindheit. Dauernd ist irgendwas oder jemand kommt – da achtet man auf sowas nich‘“ und so scheint es vielen zu gehen- wie fleißigen Ameisen, aber ohne den Blick für die Welt herum.
Der kleine Bäcker ist auf einmal richtig voll und die Kunden warten darauf, bedient zu werden. „Nach‘m Feierabend achte ich mal drauf!“, dann wendet sie sich dem nächsten Kunden zu und scheint die Ameise wieder vergessen zu haben.
So fristet die Ameise Tag ein, Tag aus ihr Leben auf dem Platz. Das Märchen zwischen Brunnen und Passage ist schon lange auserzählt.
Die schwarzen Fliesen der Ameise werden mit der Zeit grau und sie passt sich immer mehr der Umgebung an, bis sie vielleicht irgendwann ganz verschwindet. Der Brunnen füllt sich weiter mit Müll der vorbeigehenden Menschen und die Märchenpassage sammelt jeden Tag einen neuen Schriftzug aus Graffiti.
Die Menschen eilen über den Platz, in die Wohnungen, zur Haltestelle, zum Supermarkt, ohne je einmal innenzuhalten und sich umzusehen – sie sind beschäftigte Ameisen in einem großen System. Und am Ende interessieren sich für den Neustädter Platz nur noch die Ameisen, die unter den Steinen wohnen.
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