Dumpfe Bässe, tiefe Stimmen, klare Beats. Deutschrap. Eine Musikbox und vier Jugendliche inmitten eines verlassenen Spielplatzes. Alle etwa gleich alt, sitzen sich gegenüber und albern rum. Außer den drei neuen Bänken gibt es hier kaum etwas. Übereinander gelagerte Holzbalken dienen als Klettergerüst und eine große rote Eisentonne bietet eine Versteckmöglichkeit inmitten des hellen Sandkastens. Gegenüber liegt ein Kindergarten, man hört die Kinder vereinzelt lachen und rufen. Aber ansonsten ist der Platz vereinsamt und ruhig.
Man schaut sich an und dann wieder weg. Es wird gelacht und es wird geprahlt. Eine Mischung aus Coolness und Unsicherheit liegt in der Luft. Trotz recht kühler Temperaturen haben die Mädchen die Jacken offen und die Hosenbeine umgekrempelt. Großzügig bieten die Jungs an, sich doch bei ihnen aufzuwärmen: „Arschkalt, oder? Kannst‘ dich gern auf meinen Schoß setzen haha.“ Man kommt sich näher. Es wird aus bunten Plastikdosen getrunken und weiter ge albert. Jeder zweite Satz der Jungen beginnt mit „Ey Bruder“ und wird von den Mädchen meist nur mit einem Kichern quittiert.
Hier draußen kann man frei sein. Keine Eltern, die einen maßregeln. Und keine Lehrer, die Beteiligung am Unterricht erwarten. Hier draußen ist man unter sich. Vielleicht ist der Spielplatz wie eine Art Station auf der Reise des Lebens. Als müsste jeder dort einmal Halt machen, um seine eigene Geschichte zu schreiben, über die man später lachen kann und die einen wehmütig zurückdenken lässt. An eine Zeit, in der man einfach nur jung war. Und rückblickend fragt man sich vielleicht, ob es auf dieser Welt etwas gibt, dass so einzigartig schmeckt wie Teenager-Küsse?
Bei dem Gedanken an solche Treffen muss die 16-Jährige Anna lachen. Vor der Pandemie war sie häufig mit ihren Freunden auf dem Spielplatz vor ihrer Haustür. „Im Sommer haben wir so oft in dem Karussell oder auf den Bänken dort gesessen und richtig Spaß gehabt. So ein Spiel platz ist einfach ein cooler Ort.“
Spielplätze sind bei Jugendlichen zwar sehr beliebt, die Spielgeräte sind meist aber eher für kleinere Kinder gedacht. Im öffentlichen Raum mangelt es an Rückzugsorten für junge Men schen. Genau für solche Plätze spricht sich die Sozialpädagogin Nicole Friedrichsen von der Caritas Magdeburg. Ein Ort, an dem es Sportangebote, Sitzecken und die Möglichkeit, legal zu sprayen, gibt, so etwas würde den Jugendlichen mehr Freiraum bieten. Friedrichsen spricht ruhig, aber entschlossen. Die Belange der jungen Menschen lägen ihr sehr am Herzen. Es bräuchte eine starke Lobby, damit diese Bedürfnisse auch mal in der Öffentlichkeit auf den Tisch kommen, aber bis dahin sei es noch ein ganzes Stück Arbeit.
Das Thema Spielplatz beschäftigt aber nicht nur Jugendliche. In Internetforen kann man Diskussionen von aufgebrachten Anwohnern aus ganz Deutschland verfolgen. Sie sind genervt von dem Lärm und dem Dreck, den die Jugendlichen auf den Spielplätzen hinterlassen. „Das genannte Phänomen gehört in Magdeburg zum Alltag und ist selbstverständlich“, lautet es vom Ordnungsamt Magdeburg. In bestimmten Stadtgebieten oder Plätzen, an denen sich die Beschwerden häufen, kontrolliere das Ordnungsamt und die Polizei verstärkt. Seit Corona seien die Vorfälle aber zurückgegangen. Meist sind Spielplätze nur für Kinder unter 14 Jahren ge dacht, da bildet die Stadt Magdeburg ohne Altersbegrenzung eher eine Ausnahme. Dennoch sind die Vorschriften und Regeln für die Benutzung dieser Orte seitenlang. Und doch treffen sie den Kern des Problems nicht: wo sollen Jugendliche hin? „Ich hab‘ noch nie drüber nach gedacht, dass nicht nur Kinder einen Platz bekommen sollten, sondern auch Jugendliche, das wäre eigentlich mal richtig cool“, findet Anna.
Es ist mittlerweile Februar und die Temperaturen in Magdeburg sind so stark unter null gesunken, dass man auf dem verlassenen Spielplatz mehr als knöcheltief im Schnee steht. Mehrere kleine Kinder fahren mit Holzschlitten den kleinen Hügel am Ende des Platzes herab. Man hört Freudenschreie und aufgeregtes Gerede. Die Luft ist schneidend kalt, -10 Grad, aber den Kindern in ihren dicken Schneeanzügen scheint das nichts auszumachen. Im Moment kann man hier nur Schlitten fahren. Eine dicke Schneeschicht bedeckt die Holzbänke und der Sandkasten ist nur noch anhand der roten Tonne zu erahnen, die einsam aus der weißen Schicht herausragt. Genau jetzt, wo der Lockdown verlängert wurde, fällt ein weiterer Ort weg, an dem man abschalten kann. Der Spielplatz, er ist wie ein Symbol für eine vergessene Jugend.
Die Pandemie hat das Ganze nur noch zugespitzt. Wie küsst es sich heute mit dem Beigeschmack von Corona? Dieser Drang nach grenzenloser Freiheit und der Suche nach dem Sinn trifft auf Kontaktverbote und Ausgangssperren. Die Pubertät bedeutet oft Abgrenzung und Auflehnung gegen die eigenen Eltern. Zurzeit fällt aber in vielen Familien selbst die räumliche Trennung schwer, wenn alle im Home-Office oder -Schooling sind. Dies führt nicht selten zu Streitereien und Diskussionen. Die neue Situation verlangt den Jugendlichen nicht nur viel Disziplin ab, sie ist auch psychisch eine Herausforderung. Beratungs- und Anlaufstellen sind voll ausgelastet. Und auch Anna berichtet, dass sie oft geweint hat, weil sie die Situation belastet. Die Angst vor einer Infektion, Home-Schooling und der fehlende Kontakt zu Freunden, diese Sorgen lasten heutzutage auf den Schultern von Jugendlichen.
Annas Familie hält sich strikt an Kontaktbeschränkungen, um sich selbst und besonders die Großeltern vor einer Infektion zu schützen. Der Schülerin ist der Kontakt zu Oma und Opa so wichtig, dass sie dafür seit Monaten auf Treffen mit ihren besten Freundinnen verzichtet, auch wenn das manchmal schwerfällt. „Klar, man ist nicht lange jung. Zack, dann ist man Erwachsen und auf sich selbst gestellt. Jetzt wird einem praktisch ein Teil der Jugend und der Freiheit weggerissen. Aber am Ende sitzen wir doch alle im gleichen Boot und müssen aufeinander Rücksicht nehmen.“ Und mit dieser Ansicht ist Anna nicht allein.
Aktuelle Studien zeigen, dass sich die Jugendlichen weniger um Feiern und Freiheit sorgen, sondern vielmehr um die Gesundheit der älteren Generationen. Auch die Bedenken um die seelische Gesundheit und die eigene Zukunft haben unter den jungen Menschen zugenommen. Die WHO warnt bereits vor einer „lost generation“, also einer verlorenen Generation. Oder sollte man besser sagen, einer verlorenen Jugend? Die Jugendlichen haben während der Pandemie Solidarität und Rücksicht bewiesen, dafür haben sie sich mehr als nur Anerkennung verdient. Die Planung von mehr Rückzugsorten wäre immerhin ein Anfang.
Am Ende sprudelt es noch einmal aus Anna heraus, Corona habe auch etwas Positives mit sich gebracht: „Ich hab‘ die Menschen, die in meinem Leben sind, viel mehr schätzen gelernt. Man hat halt gemerkt, wer die richtigen Freunde im Leben sind. Ich freue mich einfach nur noch darauf, wenn es endlich warm wird. Letztes Jahr im Sommer konnte ich Corona fast vergessen, so schön war es. Wirklich! Ich hatte den Sommer meines Lebens!“
Es ist schön und traurig gleichzeitig, so etwas von einer 16-Jährigen zu hören, deren einzige Sorgen eigentlich die nächste Matheklausur oder die bevorstehende Geburtstagsparty sein sollte. Aber es macht auch Mut auf eine junge Generation, die dazugelernt hat und gestärkt aus dieser Krise herausgehen wird. Und dann hoffentlich noch genug Zeit für Teenagerküsse hat.
Genau deswegen ist der Anblick der vier Jugendlichen auf dem verlassenen Spielplatz so beruhigend gewesen. Zu sehen, dass sich im Kleinen anscheinend doch nicht so viel geändert hat, trotz Pandemie. Der Spielplatz, die Musik, das Lachen. Vermutlich werden schon viele junge Menschen vor ihnen und viele nach ihnen dort laut Musik hören und damit ein bisschen die eigene Unsicherheit überdecken. Vielleicht passt deswegen auch die Rapmusik so gut zu dem Szenario. Ein bisschen zu laut und ein bisschen rebellisch. So wie Teenager eben sein sollten.
Hinterlasse einen Kommentar