Mit jeder weiteren Verlängerung des Lockdowns wird die Wohnung ein bisschen fremder. Wir verlieren uns im eigenen Zuhause. Es ist nicht mehr das, was es vorher einmal war. Arbeiten und leben an einem und denselben Ort. Die räumliche Trennung von Arbeitsplatz und Wohnen ist nicht mehr gegeben. Entspannung auch nicht. Versuche, sich mit einer Situation zu arrangieren, die mehr oder weniger das Gefangen sein an einem Ort impliziert, scheitern oft.
Im vierten Stock einer 3-Zimmer-Wohnung in Magdeburg wohnt Anne, Mitte 30, mit ihren beiden Kindern Johannes, acht Jahre und Frederik, vier Jahre. Die drei meistern ihren Alltag gemeinsam irgendwo zwischen Home-Office, Home-Schooling und Home-Kindergarten. Der Esstisch im Wohnzimmer wird jeden Tag für Johannes zum Schreibtisch umfunktioniert. Hier liegt neben einem großen Stapel an Ordnern mit Kopien, Arbeitshefte für Mathe, Deutsch und Sachkunde, vielen Stiften auch der Wochenplan des Schülers. Ein Glas Orangensaft und ein Deostick haben neben der einzelnen Tulpe in der kleinen Vase auch Platz gefunden. Frederik wuselt in dem gemeinsamen Kinderzimmer herum und spielt mit Legosteinen. Weitere Steine finden sich auf dem Teppich im Wohnzimmer wieder. Johannes braucht eine Pause von den Schulaufgaben und nimmt ein ausgiebiges Bad in der Wanne, während die Waschmaschine läuft.
Normalerweise ist Anne mit ihren Kids allein daheim. Heute ist ihr Freund da und arbeitet selbst im Home-Office im Schlafzimmer und hat Videokonferenzen. Sie teilt sich die Erziehung und hat diese Woche die Kinder bei sich. Nur durch ihr Home Office ist die Kinderbetreuung gewährleistet, wie bei vielen anderen Familien. Eigentlich könnte sie ihre Kinder in die Notbetreuung des Kindergartens und der Schule bringen, doch das möchte Anne nicht. „Ich gelte zwar als systemrelevant, aber ich fühle mich nicht so. Und meine Kinder kämen dort mit anderen Kindern zusammen, deren Eltern wirklich systemrelevant sind.“
So ruhig wie heute läuft es nicht immer ab. Normalerweise sucht Frederik die Aufmerksamkeit von seiner Mama, die Johannes das Malrechnen und die Schreibschrift beibringen muss. Auf dem Wochenplan stehen viele Aufgaben für die einzelnen Schultage, die Anne auch so gut es geht immer an dem dafür vorhergesehenen Tag abarbeiten möchte. Am besten bis 11:30 Uhr. Da lief bis vor einer Woche immer „Die Sendung mit der Maus“. Das gab dem Tag Struktur und war ein Ziel bis zum Beginn der Serie fertig zu sein. In der halben Stunde bis 12 Uhr kann Anne das Mittagessen vorbereiten. Für diese Woche hat sie sich einen Essensplan überlegt, um organisierter zu sein. Doch leider läuft „die Maus“ seit Montag nicht mehr und ein bisschen Routine im neuen Alltag fehlt. Zum Mittagessen muss der Schreibtisch wieder in einen Esstisch verwandelt werden. Ganz optimal ist die räumliche Situation zum Lernen und Wohnen nicht, gibt Anne zu.
Generell hat sich einiges verändert in den letzten Monaten. Das Arbeiten von Zuhause aus ist Neuland für die meisten Arbeitnehmer:innen. Vorher war Home Office ein Phänomen der neuen Unternehmen und Start-Ups, die die Arbeit von Zuhause begrüßen. Seit letztem Jahr April ist die Anzahl der Arbeitnehmer:innen im Home-Office um ein fünffaches angestiegen. Die Chance von Zuhause aus zu arbeiten nehmen zahlreiche Personen in Anspruch. Es könnte eine mögliche positive Veränderung des Arbeitslebens mit sich bringen und neue Perspektiven eröffnen. Derzeit ist Home-Office eine Herausforderung für die Familien, da Kindergärten und Schulen geschlossen sind. Das entspannte Arbeiten ist nicht unbedingt gegeben, da Elternteile zusätzlich die Erzieher:innen und Lehrer:innen ersetzen müssen. Nebenbei fällt der Haushalt an.
Hinter der Couch liegt Annes von der Arbeit gestellter Laptop, der beim Spielen nicht kaputt gehen darf. Bei den neuen Aufgaben einer Mutter kommt die Arbeit etwas zu kurz. Derzeit steht aber zum Glück nicht so viel an. Anne plant Events und Veranstaltungen, die bekanntermaßen nicht stattfinden dürfen. Einmal in der Woche hat Anne Präsenz auf Arbeit. Eigentlich zweimal, aber ihre Chefin hat Verständnis für die aktuelle Situation. Da ist sie sehr froh drüber. Doch leider weiß sie nicht, ob sie es diese Woche schafft. Ihr Freund fährt Mitte der Woche zu sich zurück und sie ist allein mit den Kids. Ihre Familie wohnt in der Börde.
Während der Winterferien sind die beiden Jungs bei ihren Großeltern. Dort kann sich ausgetobt und viel gerodelt werden. Hier in Magdeburg ist es kaum möglich sich einmal so richtig auszupowern. Der nächste Spielplatz ist weit weg. Bis die Drei dort ankommen, ist schon jede Lust aufs Spielen vergangen. Im Hinterhof können die Jungs noch etwas mit dem Schnee spielen. Der an der Straße, meint Anne, würde immer gelber und dreckiger werden. Mit so kleinen Kindern spazieren gehen, mache auch nicht wirklich Spaß und bringe nicht die Erholung, die alle nach einem langen Tag in der Wohnung brauchen.
Ein neues Lockdown-Hobby ist das Spazierengehen. Die scheinbar einzige Flucht der Deutschen, um dem Zuhause zu entkommen. Die neue Trendsportart wurde vor allem im ersten Lockdown betrieben. Nicht nur ältere Menschen gehen auf die Straße. Auch die Jugendlichen verabreden sich zum Spazieren und Herumschlendern in der Stadt, als Abwechslung zum tristen Alltag in den heimischen Vier-Wänden. Im jetzigen zweiten langen Lockdown ist das Gehen oft nicht mehr ansprechend genug. Alle Wege wurden gegangen und bieten kaum noch Anreiz, obwohl die Bewegung gerade jetzt so wichtig ist, da die Wege zur Arbeit oder zur Schule wegfallen.
Langsam wird Frederik quengelig und möchte unbedingt, dass seine Mama mit ihm spielt. Sich allein so lang zu beschäftigen fällt dem Vierjährigen schwer. Schade findet Anne, dass er seine Freunde nicht sehen kann. Er hatte gerade neue Kinder kennengelernt und erste Freundschaften geknüpft. Und dann schlossen die Kitas. Zu gern würde Frederik seine Freunde wiedersehen, doch Anne möchte kein Risiko eingehen. Auch Johannes sieht seine Klassenkameraden nicht. Onlineunterricht bietet seine Lehrerin nicht an. Für Johannes gibt es nur Aufgaben, die Zuhause ohne Lehrhilfe ausgeführt werden müssen. Und ganz viele Kopien. Darin sieht Anne Nachteile. Andere Klassen führen sogenannten Hybrid-Unterricht aus, abwechselnd online lernen vor dem Computer und Kopien mit Aufgaben zum Bearbeiten. Gerade jetzt könnten die Kinder lernen mit dem Computer vernünftig und gewissenhaft umzugehen und sich die richtige Handhabung aneignen. Dazu kommt, dass Anne keinen Drucker besitzt. Sie druckt die vielen Seiten an ihrem Präsenztag auf der Arbeit aus. Es kam auch schon einmal vor, dass die E-Mail mit dem Wochenplan der nächsten Woche am späten Freitagnachmittag verschickt wurde. Nur durch Zufall hat Anne diese noch gesehen und konnte alles für ihren Sohn ausdrucken. Sonst hätte der Schüler in der Woche den Stoff nicht bearbeiten können. Sie hofft sehr, dass die Schulen und Kindergärten nach der weiteren Verlängerung des Lockdowns wieder öffnen.
Zudem befürchtet sie, dass die Kinder der Generation durch die Situation traumatisiert werden. Zu ihrer Jugendzeit war die BSE-Krise in aller Munde. Sie sagt, dass in den Nachrichten und privat nur davon gesprochen wurde. Heute noch hat sie daran keine guten Erinnerungen und ist kein Fan von Rinderfleisch. Genau das soll ihren Kindern nicht passieren.
Zeit für sich bleibt selten. Wann sie das letzte Buch in der Hand hatte, weiß Anne gar nicht mehr genau. Hinter dem Ess- beziehungsweise Schreibtisch steht ein längliches Kalax-Regal voller Bücher. Einige davon noch unberührt. Sie liest gern Mittelalter-Romane, zurzeit versucht sie „Zwei Handvoll Leben“ von Katharina Fuchs zu lesen. Doch ihre durchgängigen Kopfschmerzen lassen diese Art von Abschalten nur selten zu. Sie wünscht sich ein baldiges Ende. Ob sie einen weiteren Lockdown durchsteht, weiß sie nicht. Für ihre zwei Kinder tut sie alles, um es so schön wie möglich zu gestalten. Sie lässt sich die Anstrengung nicht anmerken. Auf eine große Feier und auf ein Wiedersehen mit der Familie freut sich Anne jetzt schon. Das gibt ihr auch den Antrieb weiter durchzuhalten.
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