Die neue Inszenierung Hamletmaschine am Schauspielhaus Magdeburg ist eine spielerische Befragung des überforderten Ichs im Kontext eines überfordernden Zeitgeschehens. Es ist vor allem aber ein Abschied vom Theater als allwissende, moralweisende Institution.

Die „Hamletmaschine“, ein neunseitiger Textbrocken von Heiner Müller, sollte es also werden, anstatt wie ursprünglich angekündigt „Das Spiel ist aus“ von Sartre. Die Spielplanänderung wurde mit den „jüngsten (welt)politischen Ereignissen“ begründet. Und ja, das Weltgeschehen galoppiert uns davon, so schnell und so viel ist das. Es bringt kreischende Demagog*innen hervor, die vor nicht allzu langer Zeit nur als Comic-Vorlage gedient hätten. Es stellt Fakten auf den Kopf, die nun mit gefühlten Wahrheiten, Deepfakes und Social Bots im Wettkampf um die Deutungshoheit stehen. Demokratien sehen sich damit konfrontiert, nicht immer Demokrat*innen hervorgebracht zu haben, und nun in Frage gestellt zu werden. Ereignisse, Wendungen, Figuren, Konstellationen, sie alle sind so aberwitzig geworden, kein*e Autor*in hätte sich das ausdenken können, nicht einmal eine KI für Storytelling. In diesem Wirrwarr soll das einzelne Individuum den Überblick behalten und handlungsfähig bleiben. Klingt nach einer Unmöglichkeit.

Wenn jemand die Gefühle von Ausgeliefertsein und Ohnmacht perfektioniert hat, dann Hamlet. Der Protagonist aus William Shakespeares gleichnamiger Tragödie aus dem Jahr 1603 ist quasi der Inbegriff des ewig redenden und ewig leidenden Antihelden. Sein Wesen ist die Apparatur der Gegenwart, die Hamletmaschine eben, und wer einmal mit der Verzweiflung angefangen hat, kommt nicht mehr so schnell raus.

So ist auch die Inszenierung der Regisseurin Clara Weyde in Magdeburg angelegt. Ein großer Schmerz – kontrastiert und „aufgemuntert“ durch die assoziativen Bilder und beinah kindlich-verspielten Darsteller*innen. „Das Spiel ist aus“, mit diesem Satz beginnt der Abend und läutet zwei Stunden dystopisch-groteske Abhandlungen ein. Das Saallicht ist noch an, alles wirkt irgendwie halbfertig. Philipp Kronenberg steht vor dem Eisernen, klebt mit Kreppband ein paar Türen darauf und referiert den Mythos Heiner Müller. Es geht direkt in das Jahr 1933, als das Kind Heiner miterleben muss, wie der Vater von der Gestapo in der elterlichen Wohnung geschlagen und dann mitgenommen wird. „Der Schrecken der Gewalt ist ihre Blindheit.“ Ein trauriger Satz, aber wahr, doch bevor man melancholisch werden kann, wird man besser zynisch: „Ich war Hamlet. Ich stand an der Küste und redete mit der Brandung BLABLA, im Rücken die Ruinen von Europa.“ Als der Eiserne hoch geht, zeigt sich ein holzverkleideter Innenraum mit Hirschgeweih, das bedrückende Bühnenbild (Louisa Robin) stellt Assoziationen zu Jagdhütten oder evangelikalen Kirchenhäusern her. Darin bewegen sich nun die Darsteller*innen, die wieder einmal eine starke Ensembleleistung auf die Bretter zimmern, in wechselnder Formation und Kostümierung (Clemens Leander). Mal in historisch androgynen Wams-Kombinationen und aufgeplusterten Mühlsteinkragen, mal mit durchsichtigen Jumpsuits. Die schablonierte und karikaturhafte Spielweise, untersetzt mit Gromolo und Anlehnungen an Monty Python, wirkt zeitweise witzig, wird dann aber plötzlich unterbrochen von drastischen Bildern, beispielsweise wenn sich eine Gruppe Ophelias am Bühnenrand stehend ihrer Herzen entledigt, während die Hamlets einen Balztanz mit Holzstäben aufführen – es ist ein Ringen der Geschlechter, selbst in Liebesbeziehungen steckt die Vergeblichkeit, so scheint es. Und doch kann zumindest das als Akt des Aufbegehrens verstanden werden, sich genau dieser Rollenzuschreibungen zu entledigen, ein Konstrukt weniger, was uns davon abhält, einfach Mensch zu sein.

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Die Inszenierung bedient sich der ganzen Palette postmoderner Stilmittel, vom Blut bis zur Nacktheit, für einen wilden, exaltierten Abend. Müllers Text ist hierbei eher ein Hintergrundrauschen, oft intellektuell, zuweilen auch sinnlich anregend. „Ein Stück Eisen stecken in das nächste Fleisch.“, ist eines der sich wiederholenden Leitzitate, welches die aktuellen politischen Ereignisse adressiert. Diese Hinweise auf das Zeitgeschehen sind mal subtil, wenn ein höfischer Schreittanz mit Totenmasken das Ende Europas einläutet, mal konkret, wenn der Witz fällt: „Hirngespinst mit sechs Buchstaben? UTOPIE!“ Das wirkt resigniert, ist aber auch ein Spiel mit der allzu menschlichen Hoffnung, die Verhältnisse doch noch ändern zu können. So wird das Publikum aufgefordert, einmal tief durchzuatmen und den Wunsch „Friede sei mit dir“ zumindest zu denken. Es entstehen völlig unvermittelt berührend-authentische Momente zwischen den Darsteller*innen und Zuschauenden: Bettina Schneiders sanfter Monolog als schwarzer Engel an der Bühnenrampe, oder Rainer Franks Versuch, mit „Es gilt, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch…“ zum Aktionismus aufzurufen, der in endlos gestotterte Sprachlosigkeit mündet. Hier taucht Sartre dann doch noch auf, wenn es in existenzialistischer Manier heißt: „Ich will eine Maschine sein, kein Schmerz, kein Gedanke.“ Und gleichzeitig weckt es inneren Widerstand, diese Tristesse zuzulassen, denn es stimmt: „Pessimismus ist ein Privileg!“ Man muss es sich aufgrund seines Nicht-Betroffenseins von den Katastrophen der Welt letztlich auch leisten können, „sich in seine Eingeweide zurückzuziehen“. 

Wo ist nun der Ort, der Anlass, um die Gestaltungsmacht zurückzuerobern, um auszuhandeln, wie denn nun eine Gesellschaft entstehen kann, die nicht aus der Gewalt hervorgeht und auch nicht wieder in ihr endet? Das Theater etwa? Das hat es von sich selbst lange Zeit geglaubt. Der Idealist Friedrich Schiller machte aus dem Theater eine moralische Bildungsanstalt, hier sollte gesehen werden, dass die Welt veränderbar ist. Diese Zeiten sind vorbei. Das ist die brutale Behauptung der „Hamletmaschine“. Auf der Magdeburger Bühne wird dies als Slapstick-Nummer aufgegriffen, indem die Darsteller*innen durch einen Sarg-Karton springen und darin mutieren. Das Theater als Verwandlungsmaschine ist tot. Hamlet hingegen lebt, und zwingt uns in selbstreferentielles Gejammer. Am Ende liegt die Entscheidung bei jedem Einzelnen: Kann und will ich das so stehen lassen? Welche Rolle habe ich in Bezug auf das Weltgeschehen?

Vielleicht aber wurden nur die Rollen getauscht? Nicht das Publikum braucht das Theater, um sich einen moralischen Kompass anzulegen, sondern das Theater das Publikum, um nicht mehr nur „an der Küste zu stehen und mit der Brandung zu reden: BLABLA.“

Am Ende holt Luise Hart doch noch den Benzinkanister raus, steht wie Jeanne d’Arc in einem Leichenberg – und tut etwas, was auch Heiner Müller überrascht hätte.

Text: Angela Mund

Bild: Gianmarco Bresadola

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