Europas wildeste Handpuppe kommt nach Magdeburg – und bringt ein Festival voller Anarchie, Poesie und Punchlines

Er war mal Straßenrebell, dann Verkehrserzieher – jetzt ist der Kasper wieder auf der Suche nach Haltung. Vom 4. bis 8. Juni 2025 lädt das Puppentheater Magdeburg zum Festival „Kasper? Kasper!“. 16 Gruppen aus ganz Europa, Straßenspektakel, Workshops, eine internationale Masterclass und ein Symposium fragen: Wie viel Subversion steckt noch in der Figur – und was kann sie uns heute noch erzählen?

Wir haben mit Juliane Solvång, der künstlerischen Leiterin des Festivals, und Sofie Neu, leitende Dramaturgin, gesprochen – über feministische Gretels, internationale Netzwerke, ein unbequemes Kulturerbe und die Kunst, dem Kasper nicht zu viel Respekt entgegenzubringen.

Zwischen Tradition und Aufbruch: Warum Kasper heute wichtiger denn je ist

„Kasper? Kasper!“ klingt wie eine Frage, eine Einladung, ein Weckruf – wie ist dieser Titel entstanden, und was soll er im besten Fall beim Publikum auslösen?

Juliane: Vor einem Jahr wurden wir gefragt, ob wir bei uns am Puppentheater Magdeburg nicht ein Festival mit dem Schwerpunkt Kasper gestalten wollen. Zeitgenössische Puppenspielkunst und Kasper, das klingt natürlich erst einmal wie ein Widerspruch. Je mehr wir uns aber mit dem Thema auseinandersetzten, anfangs skeptisch, dann neugierig, desto spannender fanden wir die Frage: Weshalb spielen wir eigentlich so, wie wir spielen? 

Für unser Festival haben wir uns deshalb nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa umgeschaut und schnell festgestellt: Trotz der Unterschiede gibt es da einen gemeinsamen Ursprung. Deshalb bewegen wir uns mit unserem Festival von einem nationalen Erbe weg zu einem gemeinsamen europäischen Narrativ, denn der Kasper hat viele Namen und Gesichter. 

Was reizt euch gerade jetzt – 2025 – an der Idee, das Kaspertheater nicht nur nostalgisch zu betrachten, sondern als hochaktuelles Spielprinzip?

Sofie: Das Beeindruckende an dieser Figur bzw. dieser Art zu spielen ist, dass sie eben nicht verschwunden ist. Sicher ist der Kasper nicht mehr so relevant wie früher, aber viele einzelne Versatzstücke dieser Spielform haben sich im Handpuppenspiel durchgesetzt, werden zitiert oder neu interpretiert. 

Wir erleben grade eine Zeit, in der sich gesellschaftliche Krisen für Menschen überfordernd anfühlen und Diskurse sehr hart geführt werden. Kaspertheater war immer per se politisch – und ich glaube, in unseren eingeladenen Gastspielen können Leute Theater als Ventil erleben, eben weil der Kasper unangenehme Wahrheiten ausspricht oder zum Lachen einlädt. 

Warum braucht das Kaspertheater ein Festival – und warum jetzt ein UNESCO-Support? Ist das ein Statement gegen kulturelles Vergessen oder eine Liebeserklärung? 

Juliane: Definitiv eine Liebeserklärung! Und damit auch ein ticket to ride.

Sofie: Genau. Die Bestrebungen, das Kaspertheater nach seiner Aufnahme 2021 ins Deutsche Immaterielle Kulturerbe nun gemeinsam mit anderen europäischen Ländern auf die Liste des weltweiten Kultuererbes der UNESCO zu bringen, sind nämlich ganz aktuell. Die Initiative ging von verschiedenen engagierten Menschen aus der Puppentheaterszene aus, beispielswiese von Mareike Gaubitz, der Leiterin des Dokumentationszentrums des Deutschen Forums für Figurentheater und Puppenspielkunst, Bochum, oder von Jens Welsch von der Sammlung Hohnsteiner Kasper und Ralf Uschner vom Mitteldeutschen Marionettentheatermuseumin Bad Liebenwerda. Da wollten wir uns als größtes städtisches Puppentheater Deutschlands natürlich beteiligen und das unterstützen, denn die UNESCO fordert eine kritische und lebendige Auseinandersetzung mit dieser wichtigen Spieltradition, damit der Kasper den Sprung vom nationalen Verzeichnis auf die weltweite Liste schafft.

santa-pulcinella
© Marta Pelamatti

Und wie viel „Ungehorsam“ muss man der Figur lassen, damit sie lebendig bleibt?

Sofie: So viel wie möglich! Aber ich finde wichtig zu betonen: Der Kasper tritt nicht nach unten, nur nach oben.

Juliane: Ich würde sagen, er tritt auch ziemlich viel zur Seite, im wahrsten Sinne des Wortes. Nicht nur sein Sidekick Gretel – beim Punch ist es die Judy – bekommt immer wieder eins drüber. Das hat ja auch historische Gründe. Je kontroverser so ein Jahrmarkttheater war, desto lukrativer. Wenn man sich den Kasper näher anschaut, dann entdeckt man an ihm viele Seiten, die ihn alles andere als sympathisch machen. Der ist ziemlich misogyn und narzisstisch, brutal und politisch selten korrekt. Gerade die Auseinandersetzung damit macht den Kasper ja als Figur spannend.

Euer Line-Up besteht aus 16 Gruppen aus ganz Europa – wie politisch, poetisch oder provokant ist das Handpuppenspiel in anderen Ländern? Was habt ihr da entdeckt, was euch überrascht hat?

Juliane: Ich war von der Vielseitigkeit überrascht, ästhetisch wie auch inhaltlich. Die große Leichtigkeit, mit der verschiedene, zum Teil sehr traditionelle, aber auch neue Theaterformen miteinander vermischt werden. Das Ausloten von Grenzen, das hohe Maß an Virtuosität, gepaart mit jeder Menge Spielfreude. Und immer wieder: Die Interaktion mit dem Publikum als ein wichtiger Teil des Spielprinzips Kasper.

Sofie: Neben den Gastspielen gibt es ja auch noch ein Symposium. Ich freue mich besonders auf den Vortrag von Prof. Dr. Adriana Schneider Alcure aus Brasilien, die über das brasilianische mamulengo-Theater sprechen wird. Es basiert auf der europäischen Kasper-Spielform, stammt aus der Kolonialzeit und war und ist ein wichtiger Ausdruck armer, unterdrückter Bevölkerungsschichten.

Eine der eingeladenen Gruppen war 2024 beim legendären Theaterfestival „at:tension“ zu sehen. Wie kommt man an solche Gruppen ran – ist das Netzwerken, Bauchgefühl, oder nächtelanges Recherchieren auf obskuren YouTube-Kanälen?

Sofie: Die Compagnie La Pendue ist nicht unbekannt in der Szene und war mit ihrem Stück Trio Fata schon viel in Deutschland zu sehen. Sie sind bekannt dafür, traditionelle Spielformen auf höchstem handwerklichen Niveau mit neuen Erzählformen und Ästhetiken zu verbinden. Ich hatte der Gruppe extra geschrieben, damit ich La Manékine auf der at.tension sicher sehen  kann und war sehr beeindruckt von der Spielkraft von Estelle Charlier und Martin Kaspar Läuchli.

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

Juliane: Wir haben „Kasper? Kasper!“ ja in verhältnismäßig kurzer Zeit auf die Beine gestellt. Sofie, Miriam (die als Dramaturgin die Masterclass leitet) und ich haben uns in den vergangenen Monaten das eine oder andere auf Festivals angeschaut und konnten so Neues entdecken. Dort kommt man ja auch immer mit anderen Theaterschaffenden ins Gespräch, die einem den einen oder anderen Tipp geben. Und dann passiert es, das man gemeinsam von einem Spielort zum nächsten läuft und sich auf dem Weg mit einer Kollegin aus Slowenien unterhält. Die dann erzählt, dass eine von uns favorisierte, zwischenzeitlich aber leider abgespielte Produktion zum Jubiläum des Puppentheaters in Maribor wieder aufgenommen wird. Glück für uns, denn so konnten wir „The Trial or The Woeful Story of Joseph K.“ doch noch einladen.

Einige der Gruppen kannten wir auch bereits, so zum Beispiel Opposable Thumb Theatre, die bereits mehrfach mit dem Nordland Visual Theatre in Norwegen koproduziert haben. Dort habe ich ebenfalls mal gearbeitet und kenne deshalb deren Ästhetik ganz gut. Als jemand, der lange in Skandinavien tätig war, wollte ich dem Magdeburger Publikum auch das Sofie Krog Teater aus Dänemark nicht vorenthalten. Mittlerweile ist deren Produktion „The House“ zu einem modernen Klassiker avanciert und tourt durch ganz Europa. Ihr neuestes Stück „Quacksalver“ bringen sie ebenfalls mit, denn der Samstag steht bei unserem Festival ganz im Zeichen des Jahrmarkts!

Coulrophobia

©Trine Paulsen

Internationale Impulse, feministischer Kasper und jede Menge Puppenzauber

Habt ihr unter den eingeladenen Gruppen einen persönlichen Geheimtipp oder Lieblingsmoment, auf den ihr euch besonders freut?

Sofie: Oh je, ganz viel! Die französische Compagnie La Mandale ist z. B. zum ersten Mal in Deutschland zu sehen und zeigt mit Les Impavides Bretons ein Stück für alle Generationen, in dem drei mutige Handpuppen in die Kanalisation abtauchen. 

Juliane: … was ziemlich nass und laut sein wird. Das ist auch einer meiner Favoriten. Mit „Santa Pulcinella“ und „Heinrich der Fünfte“ haben wir gleich zwei Produktionen junger Absolvent*innen aus Stuttgart und Berlin dabei. Auch auf die Produktion „Petites Histoires Sans Paroles“ der französischen Gruppe L´Alinéa freue ich mich auch sehr. Kleine Geschichten ganz ohne Worte mit einem Spieler und einem Musiker, poetisch und mit philosophischem Tiefgang. Den phänomenalen Matija Solce mit seinem Teatro Matita und der Produktion „E Beh!“ sollte man auch keinesfalls verpassen.

Sofie: Und mit dem Opposable Thumb Theatre aus Großbritannien haben wir wirkliche Unterhaltungslegenden da, die mit Coulrophobia eine sehr, sehr wilde Abschlussshow spielen werden. 

Juliane: … mit disappointing nudity, wie es die Gruppe selbst nennt, und nicht ganz jugendfreier Sprache. Beim Festival gibt es also auch eine große Portion Anarchismus, versprochen.

Das Festival findet auf dem Gelände des Puppentheaters statt. Wird auch von außen was vom Programm zu sehen sein?

Sofie: Uns war wichtig, auch ein bisschen das Gefühl von Kaspertheater als „Volkstheater“ oder Jahrmarktattraktion aufleben zu lassen. Deswegen spielen Donnerstag, Freitag und Samstag jeweils eine Show draußen vor der Getränkefeinkost in Buckau – gratis und für alle!

Juliane: Wem das noch nicht weit genug vom Gelände des Puppentheaters entfern ist, den laden wir auf unsere neue Probebühne ein. Mit der Ausstellung „Puppets 4.0“ der FIDENA. Mit VR-Brillen geht es da nämlich in virtuelle Welten, um Figurentheater anderer, nichteuropäischer Kulturen zu entdecken.

Was bedeutet es für euch konkret, ein kulturelles Erbe nicht nur zu bewahren, sondern weiterzuentwickeln? Wie geht man mit dieser Verantwortung um?

Sofie: Ich finde es sehr wichtig, die enormen Lebensleistungen von Puppentheaterkünstler*innen zu würdigen und ihre Arbeit zu archivieren. Aber zu viel Respekt sollte man auch nicht haben vor der Tradition. Wir sind sehr gespannt, was die jungen Puppenspielstudierenden in unserer Masterclass mit dem Kasper anstellen werden – ihre Show heißt KASPER GO HOME!

Juliane: Aus eigener Erfahrung als Spielerin weiß ich, wie wichtig es ist, dem Nachwuchs Möglichkeiten zum Netzwerken zu bieten, wenn man zeitgenössisches Figurentheater nachhaltig mitgestalten und Impulse geben möchte. Mit unserer Kollegin Miriam Locker haben wir eine erfahrene Dramaturgin im Boot, die sich zusammen mit dem Regisseur und Spieler Leonhard Schubert und zwölf jungen Puppenspielerinnen von mehreren europäischen Theaterhochschulen nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch mit dem Spielprinzip Kasper auseinandersetzen wird.

Der Kasper war mal ein Straßenrebell, dann ein Verkehrserzieher – heute ist er vielleicht wieder auf der Suche nach Haltung. Welche Version der Figur interessiert euch beim Festival am meisten?

Sofie: Mich interessieren die ganzen Nebenfiguren, die im klassischen Kaspertheater sehr klare, begrenzte Aufgaben erfüllt haben: Gretel, Tod und Krokodil z. B. Was passiert, wenn sie in den Fokus rücken und ihre eigene Geschichte erzählen?

Juliane: Der systemsprengende Kasper interessiert mich am meisten. Wo rebelliert er, um aus den Begrenzungen seiner eigenen Figur ausbrechen zu können?  Wo ertappt er uns in unseren eigenen festgefahrenen Denkweisen? Und was geschieht, wenn das, was im Kaspertheater stattfindet, abseits der Spielleiste dargestellt wird? Wenn es nicht mehr der pöbelnde Puppenkasper ist, sondern ein Mensch, der jemanden beschimpft, verprügelt, totschlägt? Feuern wir ihn an? Lachen wir dann weiter? Ohne die johlende Menge funktioniert der Kasper ja nicht.

Kasper tot

© Lutz Edelhoff

Der Kasper als Spiegel unserer Zeit

Das Kaspertheater als Spielprinzip passt sich seit Jahrhunderten gesellschaftlichen Umbrüchen an – wie zeigt sich das beim Festivalprogramm konkret? Welche aktuellen Themen greifen die eingeladenen Gruppen auf, und was kann ein Kasper 2025 sagen, was andere Bühnen nicht so dürfen?

Sofie: Es gibt auffallend viele feministische Neuinterprationen über die Gretel- oder Judy-Figur.

Juliane: Nicht ohne Grund beginnen wir das Festival deshalb gleich am Mittwochmorgen mit dem Theater Mumpitz und dem Staatstheater Nürnberg mit „Jazz für Räuber oder Gretels großer Auftritt“, einem Stück für die Allerkleinsten, in dem Gretel die Nase gestrichen voll hat davon, immer nur Randfigur sein zu müssen. Auch bei der deutschen Erstaufführung „La Luna e Pulcinella“ von Irene Vecchia aus Neapel spielt Pulcinella zwar die Hauptrolle, im Fokus stehen aber eindeutig die Frauen, die sich emanzipieren.

Wir freuen uns auch darüber, dass wir mit Alissa Mello von der Universität Exeter (Großbritannien) eine Wissenschaftlerin als Sprecherin für unser Symposium haben gewinnen können, die zur Rolle der weiblichen Figur im Puppenspiel forscht, vom 18. Jahrhundert bis heute. Ihre aktuelle Produktion „Spike Bones’ Punch & Judy Show“ findet bei uns übrigens im Rahmenprogramm statt.

Gibt es ein Festivalticket für alle Tage?

Juliane: Klar! Für 50 Euro gibt es einen Festival-Pass, mit dem fünf Vorstellungen Eurer Wahl besucht werden können – reservieren könnt Ihr die Einzeltickets über unsere Kasse. Gleich drei unserer Produktionen könnt Ihr während des Festivals als Straßentheater erleben, der Eintritt ist frei. Auch der Besuch unserer Sammlung ist am 7. Juni kostenlos. Darüber hinaus bietet unser Rahmenprogramm eine Reihe von Walkacts, Vermittlungsangeboten und Popup-Workshops, die Ihr besuchen könnt.

Alle Infos und Tickets findet ihr ab dem 23.April unter:
https://www.puppentheater-magdeburg.de/kasper/