Die neue Spielzeit 2024/25 im Schauspielhaus Magdeburg startete mit einer beachtlichen Doppelpremiere
Gleich zwei Premieren hintereinander, noch dazu Uraufführungen, konnte sich das Publikum zur Spielzeiteröffnung im Schauspielhaus Magdeburg ansehen. Und tatsächlich machte die Kombination der Stücke ausgesprochen Sinn. Der thematische Rahmen dafür: Ostdeutsche Zustände und gesamtgesellschaftliche Sollbruchstellen. Ja, anspruchsvoll, aber unterhaltsam aufbereitet, wenn nicht sogar mitreißend, und im Kontext der ostdeutschen Landtagswahlen und politischen Erosionserscheinungen hochaktuell. Die künstlerische Leitung des Theaters Magdeburg zeigt damit einmal mehr ihr feines Gespür für jene Themen, die in der Stadt und darüber hinaus von Bedeutung sein könnten, und den Willen, die ästhetische Formsprache auf der Bühne weiterzuentwickeln, mithin dem Publikum Neuentdeckungen zu ermöglichen.
Das erste Stück, „Monopoly – Eine Besteigung des deutschen Schuldenberges“, entstand in Kooperation mit dem Osten-Festival und zeigt eine skurrile Reise durch das deutsche Finanzsystem. Calle Fuhr, Autor und Solo-Performer des Stücks, gelingt es leichtfüßig, das Publikum durch dieses Thema zu lotsen. Ausgangspunkt ist die klassische „was wäre, wenn“-Frage und eine seltsame Entscheidung von Fuhr, nämlich die persönlichen Staatsschulden zurückzuzahlen, um Deutschland mehr finanziellen Gestaltungsspielraum zu ermöglichen. Was wäre, wenn Deutschland mehr Geld für Investitionen hätte? Denn eines scheint sicher: Der Investitionsstau in den Bereichen Bildung, Pflege, Infrastruktur und Klimaschutz ist gigantisch. Und er hat jetzt schon fatale Auswirkungen auf die Gesellschaft und die ökonomische Entwicklung des Landes. Aber warum gibt es diesen Investitionsstau überhaupt? Warum werden keine weiteren Schulden aufgenommen, die sich doch als Anschub für die Zukunft verstehen lassen? Woher kommt dieses Festhalten an der Schuldenbremse, obwohl Schulden nachweislich (!) nicht im Zusammenhang mit der Wirtschaftsentwicklung stehen, und die Schuldengrenze eher willkürlich festgelegt wurde?
Da steht Fuhr nun als ein Geschichtenerzähler vor dem Publikum, dessen Weltsicht zuweilen naiv, aber dafür umso nahbarer wirkt, der aus persönlichen Überlegungen und Begegnungen heraus dieses Thema entfaltet, und konstant die Verbindung zum Publikum sucht. Fuhr hangelt sich von einer Frage zur nächsten, erzählt dabei immer konkret und spannend. Es werden Figuren eingeführt, die, obwohl nur mit Dialekt unterlegt, so charmant und wiedererkennbar wirken, als wäre man ihnen selbst begegnet. Angefangen vom Sparkassenmitarbeiter, über die schwäbische Hausfrau, bis hin zu Annika, einer Berliner Ökonomin, sie alle stellen auf unterschiedliche Weise die Sinnhaftigkeit der Schuldenbremse auf den Prüfstand. Die Argumentationskette ist präzise gesetzt, die Informationen, die Fuhr dem Publikum auf den Weg gibt, sind zusätzlich über einen Fakten-Check im Programmheft nachzuvollziehen. Und am Ende, das ist nur folgerichtig, tritt auch Bundesfinanzminister der FDP, Christian Lindner, auf (leider nicht in persona, dafür als vorgelesener Interviewtext), um die dazugehörige politische Ideologie hinter der Schuldenbremse zu erklären, oder eher: drum herum zu lavieren.
Dieses Stück ist ein Experiment, nicht nur weil es sich einem komplexen Thema widmet, sondern auch Fragen an unsere Rezeptionsgewohnheiten stellt: Wie viel Performance braucht ein Theaterabend, um fesselnd und unterhaltsam zu sein? Erkenntnis: Erstaunlich wenig. Erstaunlich deshalb, weil wir beim Sehen zunächst einmal viele Effekte gewohnt sind, die unsere Aufmerksamkeit herstellen sollen. Mit derart reduzierten und gleichzeitig pointierten stilistischen Mitteln einen zum Nachdenken angelegten Abend zu bestreiten, wie hier der Fall, ist eine hohe Kunst. Aber wie viele Informationen kann man dem Publikum mitgeben und gleichzeitig das Interesse bei der Erklärung komplexer Sachverhalte lebendig halten? Weitere Erkenntnis: Erstaunlich viele. Denn tatsächlich geht mensch klüger raus, als er*sie reingegangen ist. Diese Form (Recherche-Theater oder auch Investigativtheater) eignet sich hervorragend, um ganz konkrete Inhalte aufzubereiten, ansprechbar zu präsentieren und damit im besten Fall Diskurse anzuregen. Es lohnt sich also!

©Dorothea Tuch
Das zweite Stück des Abends, „Onkel Werner“, wurde mit Hochspannung erwartet, vor allem deshalb, weil Regisseur Jan Friedrich mit den beiden Magdeburger Inszenierungen „Woyzeck“ und „Blutbuch“ die ästhetische Messlatte extrem hoch gesetzt hatte, und seit einigen Jahren zu Recht zu den Shootingstars zählt. Das aktuelle Stück ist eine Überschreibung des Klassikers „Onkel Wanja“ von Anton Tschechow, soweit erkennbar sind Motive und Figuren dem Original entlehnt, aber frei bearbeitet und auf heutige Themen übertragen. Die Leitfragen der Stoffbearbeitung: Woher kommt der Rechtsruck in der Gesellschaft? Und warum sind Menschen, die einst für linke Werte standen, zunehmend offen für rechte Positionen? Eine These, die zu Widerspruch einlädt, und die es zu diskutieren gilt.
Das Stück versucht auf diese Fragen mit einigen dramaturgischen Behauptungen zu antworten, die mensch erst mal so hinnehmen kann. Das Publikum hat eine Gesellschaft vor sich, die sich in Stagnation befindet und unter ihren Verwerfungen leidet, genauer gesagt ostdeutsche Tristesse in Kombination mit einer Familien-Tragödie. Schon das Bühnenbild (Max Schwidlinski) illustriert dies eindrücklich: Eine verrostete Ladenfront, dahinter eine überdimensionierte Blümchentapete, die einen zu erschlagen droht. In diesem Setting stehen die Figuren zunächst lange einfach da, in ihren Kostümen, die man so in jedem DDR-Nostalgie-Laden kaufen könnte, Abziehbilder ihrer selbst. Sie sind regungslos, mal trinken sie einen Eierlikör, mal schmieren sie sich ein Brot, es wirkt, als klebe ihnen selbst beim Sprechen die Zunge am Gaumen, so zäh ist dieses Leben. Die Geschichte, die sich dann entspinnt, ist im Grunde zügig erzählt: Onkel Werner, in einer wunderbar frustrierten Dampfhammer-Version von Nico Link, sinniert und pöbelt sich durch diese Einöde, während er weiterhin, eher vergeblich, eine Pension betreibt. An seiner Seite stöckelt eine unerbittlich mahnende Mutter, feingliedrig gespielt von Catherine Stoyan. Früher einmal vertrat Werner eben jene linken Werte, wendet sich aber zunehmend davon ab, enttäuscht vom Leben, aber auch von Alexandra, seiner einstigen politischen Hoffnungsträgerin und Schwägerin. Sie, bezaubernd vulgär von Iris Albrecht dargestellt, kommt nun nach langer Politik-Karriere pleite und abgehalftert aus Berlin zurück in die Provinz, quartiert sich in der Pension ein und lebt zunächst einmal exzessiv ihre Hypochondrie aus. Begleitet wird sie von ihrer jüngeren Geliebten Elena, zu sehen mal wieder eine großartige Marie-Joelle Blazejewski, die zunehmend zum Begehrensobjekt aller männlichen Individuen wird, sich aber ebenfalls der Stagnation übergibt und: nichts tut. Nichts tun kann, nicht einmal, als Michael, überarbeiteter Notfallsanitäter und Freund des Hauses, vor ihr steht und sich mit dem Trauma-Satz schlechthin „Du willst es doch!“ entblößt. Diese Szene ist an Grausamkeit (für die Figuren, aber auch für das Publikum) kaum zu überbieten. Und tatsächlich ist Philipp Kronenbergs Darstellungsrepertoire in der Rolle des Michael voll zur Geltung gekommen, zart und nuanciert, brutal und hingebungsvoll, unfassbar intensiv die Szene in der Pension, als er sich sturzbetrunken von der Hoffnung auf Liebe verabschiedet, während ihm der Feta-Käse aus dem Mund bröckelt. Neben ihm steht Sonja (Luise Hart), die zurückgelassene Tochter von Alexandra, still leidet sie an ihrer unerwiderten Liebe zu ihm, während sie die Kaffee-Flecken aufwischt. Der einzige Moment von Lebendigkeit, als Sonja und Elena zusammen „Du hast den Farbfilm vergessen“ grölen. Die Figuren sind entweder unbeweglich an einem Punkt fixiert oder taumeln zwischen Nichtstun und der Behauptung von Tun hin und her. Es ist zuweilen schwer, diese Starre und dieses Selbstmitleid auszuhalten. Man möchte ihnen sagen: Aber euch geht es doch gut. Man will sie anschreien: Wenn ihr ein Problem mit eurer Lebenssituation habt, dann ändert sie doch! Hier treffen Tschechow und die Magdeburger Stücküberschreibung wieder aufeinander: Einerseits herrscht eine lethargisch-frustrierte Grundstimmung, andererseits ist die nahende Veränderung beinah körperlich spürbar. Und die kommt dann auch recht schnell und grob daher, indem Alexandra verkündet, die Pension verkaufen zu wollen, stattdessen könnten sie in Kryptowährung investieren. Am Ende brüllt ihr Werner seinen ganzen Hass auf die Zustände entgegen: „Wir werden dich finden, wir werden dich jagen, wir werden dich kriegen, wenn dann erst mal die Richtigen an der Macht sind und hier aufgeräumt wird.“ Sätze, die einem in den Ohren vibrieren, und sicherlich mit Absicht eine Anspielung auf Gaulands „Wir werden sie jagen“-Ansprache oder Höckes Wahlkampfreden sein sollen. Ob mit diesem Stück Antworten auf die eingangs gestellten Fragen gegeben werden, bleibt offen. Den Rechtsruck als ostdeutsches Phänomen zu erzählen, wäre verkürzt. Ihn lediglich als Frustreaktion auf „die da oben“ einzukriesen oder ausschließlich auf das Versagen linker Politiker*innen zu projizieren, ebenfalls. Die Ergebnisse der diesjährigen Landtagswahlen sind und bleiben besorgniserregend, und sie haben durchaus etwas mit ostdeutschen Spezifika zu tun, allerdings in einer komplexeren Variante. Nichts desto trotz ist die Magdeburger Inszenierung „Onkel Werner“ eine Annäherung daran, und wie immer ein absolutes Seherlebnis, sowohl hinsichtlich der Bühnenästhetik als auch der schauspielerischen Leistungen.

©Gianmarco Bresadola
Text: Angela Mund (bühnenfrei Magdeburg)
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