Weiter rasieren oder ihm die Kehle durchschneiden? Wie würdet ihr euch entscheiden, wenn ihr in Woyzecks Haut stecken würdet? Wenn ihr euch für ein wenig Geld gefährlichen medizinischen Versuchen zur Verfügung stellen lassen müsstet? Oder Rattenbisse abwehren müsstet, um der Hoffnung, eine achtlos weggeworfene Münze im Mülleimer zu finden, nachgehen zu können? Wenn ihr tagtäglich Enttäuschungen und Erniedrigungen erdulden müsstet? Würde euch die Entscheidung dann auch noch so leichtfallen, wie jetzt im gemütlichen Theatersessel?
Nur eine von vielen Entscheidungen, welche Franz Woyzeck während seiner Durchläufe durch die Schreckenszustände seines Umfelds immer wieder neu verhandeln und treffen muss. Mitfiebern und Gänsehaut garantiert!

Philipp Kronenberg © Kerstin Schomburg

Aber zurück zum Anfang: Am 28. Januar 2023 feierte im Magdeburger Schauspielhaus Georg Büchners Drama „Woyzeck“ in einer – so viel schon mal vorweg – eindrucksstarken Inszenierung von Jan Friedrich Premiere. Anfang Februar haben wir uns zusammen mit dem Schauspieler Philipp Kronenberg und dem Dramaturgen Bastian Lomsché die Geschichte und die Figur des Woyzecks etwas genauer angeschaut. Daraus entstand der erste Teil einer Dilogie über den Magdeburger Woyzeck. Dem setzen wir nun unsere Eindrücke aus dem Besuch einer Vorstellung obendrauf.

„Es war einmal ein arm Kind und hat kei Vater und kei Mutter, war alles tot und war niemand mehr auf der Welt.“
(Auszug aus Woyzeck)

Bereits während die Zuschauer:innen ihre Plätz einnehmen, bewegt sich eine Figur rast- und orientierungslos über die Bühne und monologisiert. Auf einer Schattenwand zwischen Bühne und Zuschauer:innenraum wird eine Menüleiste, wie man sie aus Computerspielen kennt, eingeblendet. Ein neues Spiel wird geladen. Wenig später hebt sich die Schattenwand und ein detailreicher und düsterer Bühnenraum wird freigegeben. Eine große Videoleinwand überträgt die Schauplätze der Handlung und zeigt uns vielfältige Bühnenelemente, die bis in die entlegensten Winkel der Seitenbühnen hineinreichen. Das Setting wirkt unerwartet groß, komplex und unüberschaubar. Gleichzeitig schürt es die Neugier, immer tiefer eintauchen und neue Schauplätze entdecken zu wollen.

Die Kostüme von Vanessa Rust scheinen mit gängigen Stereotypen derer Milieus zu spielen, in denen wir die Figuren heute nur allzu voreilig stecken würden. Indem diese Stereotypen aufgegriffen und zum Motiv gemacht werden, tragen sie dazu bei, sowohl das Konstrukt als solches als auch unser Denken über dieses Konstrukt der sogenannten sozialen Brennpunkte und ihrer Menschen bloßzustellen. Die Maske setzt in dieser Produktion auf fluoreszierende Farbe. Jede Figur erhält ihren eigenen farblichen Anstrich – im Kontrast zum sehr finsteren Bühnenraum eine sehr effektvolle und beeindruckende Ästhetik.

Eine weitere Besonderheit der Inszenierung: Die Figuren werden jeweils von einer:einem Schauspieler:in gespielt. Der Text der jeweiligen Figur wird wiederum von einer:einem anderen Schauspieler:in über ein Mikrofon am Bühnenrand eingesprochen. Nur Woyzeck bleibt während seiner Durchläufe, mit Ausnahme eines Aufschreis gegen Ende der Geschichte, ohne Stimme.
Was am Anfang noch etwas verwirrend wirkt, spielt sich bereits nach kürzester Zeit ein. Bereits Büchner ließ seine Figuren aneinander vorbeireden und legte ihnen Indizien für ihre gesellschaftliche Position in den Mund. Auf der Magdeburger Bühne werden diese verschiedenen Sprachebenen besonders hervorgehoben. Auch verwenden viele Figuren im Gespräch mit Woyzeck die dritte Person Singular ihm gegenüber. Sie skizzieren damit ihre Abgrenzung Woyzeck gegenüber, der einsam und unsicher zurückbleibt.

Julia Buchmann, Philipp Kronenberg © Kerstin Schomburg

Jan Friedrich und sein Team stellen die Geschichte ein wenig auf den Kopf und entwerfen eine Videospielewelt, in der die Geschichte von Woyzeck in die Gegenwartsgesellschaft übertragen wird. Ein spannender Ansatz, der sich in der Umsetzung als innovativ und dennoch außerordentlich stimmig erweist.
Büchners Dramentext blieb bei seinem frühen Tod als Fragment zurück, eine offene und austauschbare Abfolge einzelner Szenen, die es mittlerweile zu verschiedensten Lese- und Bühnenfassungen geschafft haben. Die Geschichte eignet sich deshalb besonders gut, in Kapiteln bzw. Durchläufen erzählt zu werden. Diese versinnbildlichen die sich verschärfenden Prozesse, die sich um und letztlich in Woyzeck abspielen, ihn in seinen Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten, als auch Handlungsfähigkeiten beeinflussen. Ein Durchlauf endet mit dem Game Over. In den darauffolgenden Durchläufen kann Woyzeck mit seinem Vorwissen der vorigen Spielzüge sich in anderen Entscheidungswegen ausprobieren. Aber inwieweit können die neuen Entscheidungen den Ausgang der Geschichte, seinen Ausgang verändern? Oder ist am Ende doch alles vorprogrammiert?

„Was gafft ihr? Jeder Mensch ist ein Abgrund und es schwindelt einem, wenn man hinabsieht.“
(Auszug aus Woyzeck)

Die Inszenierung lebt nicht nur von seiner spielerischen Erzählkraft und der beeindruckenden Ästhetik, sondern gleichermaßen von einer Dramaturgie, die gekonnt den Bogen zu den relevanten Fragestellungen der Gegenwart spannt. Inwieweit ist es allen Menschen gleichermaßen gegönnt, ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen? Inwieweit werden Menschen in ihrem Denken und Tun durch sozio-ökonomische und politische Dynamiken eingeschränkt, gar fremdgesteuert? Wie verhält sich das Individuum zu einer durchnormierten und hierarchisierten Gesellschaft und umgekehrt?
Dabei kommt die Inszenierung immer wieder auf Büchner zurück, spielt die Originaltexte, die auch in der Gegenwartsübersetzung noch bestens funktionieren und nichts von ihrer Eindringlichkeit einbüßen.

Das siebenköpfige Ensemble glänzt in vollen Zügen und schafft es, die Fiktion einer Videospielewelt zu vervollständigen und zum Leben zu erwecken. Philipp Kronenberg navigiert seinen Woyzeck die gesamte Stückdauer von fast zwei Stunden über die Bühne und zeichnet die Konflikte, die seine Figur mit sich austrägt, eindringlich nach. In Erinnerung geblieben ist zudem der von Julia Buchmann gesprochene und von Bettina Schneider gespielte politische Monolog im zweiten Durchlauf, der mit seiner Wucht und Präzision nachhallen dürfte. Anton Andreew, Marie-Joelle Blazejewski, Robert Lang-Vogel und Mia Rainprechter stehen ihren Kolleg:innen in ihrem intensiven Spiel in nichts nach.

Marie-Joelle Blazejewski, Philipp Kronenberg © Kerstin Schomburg

Das Publikum dankt der Inszenierung mit tosendem Applaus und Jubelrufen. So einige Zuschauer:innen hält es da nicht mehr auf den Sitzen. Wer sich auf diese Neuinszenierung des Klassikers einlässt, und das ist nur wärmstens zu empfehlen, dem eröffnen sich viele neue Eindrücke und Denkanstöße, die noch lange nach dem Ende der Vorstellung nachwirken. Eine Meisterleistung, die nicht zuletzt vor dem Hintergrund des enormen Aufwands, die jede einzelne Vorstellung auszeichnet, nachhaltig beeindruckt.

Im März ist der Magdeburger Woyzeck am Dienstag, den 07.03., sowie am Mittwoch, den 08.03., jeweils um 10 Uhr, an den Samstagen 18.03. und 25.03. jeweils um 19.30 Uhr und am Sonntag, den 26.03. um 18.30 Uhr im Schauspielhaus zu sehen. Alle weiteren Informationen und Tickets zum Stück findet ihr wie immer auf der Website des Theater Magdeburg.

Fall ihr noch nicht restlos überzeugt sein solltet, checkt doch mal den Trailer zum Stück aus:

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Text: Tobias Bachmann