Die aktuelle Inszenierung „Blutbuch“ am Theater Magdeburg führt uns in eine brutale Familiengeschichte und stellt die Frage nach dem menschlichen Gewordensein noch mal völlig neu.

Wer wären wir, wenn mensch uns nie gesagt hätte, wer wir zu sein haben? Wie wäre unser Denken, Fühlen, unsere Weltwahrnehmung, wie wären unsere Körper, wenn uns keine gesellschaftlichen Kategorien überformt hätten? Wäre das die Freiheit, ein Meer an Möglichkeiten, wie wir sein könnten? Aber es gibt sie, die sogenannten Wertvorstellungen, die unser Dasein, unsere Körper und unsere Sexualität normieren, sagen, wie wir zu sein haben oder nicht zu sein haben, und die gerade in unserer Zeit ein hart umkämpftes Feld sind. Was so manche Populist*innen dabei vergessen, oder absichtlich beiseite schieben: es geht um Menschen, es geht um die Frage, mit welchem Recht eine Gesellschaft über den*die Einzelne*n verfügen darf. Da ist ein Kind, es wächst mit Menschen auf, die von ihm verlangen sich zu entscheiden: Bist du ein Junge oder ein Mädchen? Es hadert, es möchte sich so gern entscheiden, es sucht ohne Unterlass und wendet Zauberformeln an, es verzweifelt, es verletzt sich selbst. Und da ist niemand, mit dem das Kind über seine Ängste und Nöte sprechen kann, die Erwachsenenwelt wirkt bedrohlich, am Ende spricht es mit den eigenen Fingern oder mit einem Baum, der Blutbuche. Der Baum, die Suche, die Gewalt, das sind die Themen des neuen Stücks „Blutbuch“ am Theater Magdeburg, welches am 27. Januar Premiere hatte. Und mensch kann es nicht anders sagen: Was für ein bewegendes, ästhetisches und damit absolut empfehlenswertes Theaterereignis! Die Inszenierung von Jan Friedrich zerlegt auf präzise Weise eine über Jahrhunderte währende Abfolge familiärer Traumata und gibt damit die Schichten des menschlichen Gewordenseins frei. Dass dies mit Schuld, Scham und Schmerzen einhergeht, ist zu erahnen, umso überraschender sind die vielfältigen, stilistischen Elemente der Inszenierung, die düstere Märchenkulisse, die überdimensionierten Requisiten, die quälend nahen Videoansichten und die intensive Spielweise der Schauspieler*innen, die diesen Abend so eindringlich und letztlich auch preisverdächtig machen. 

Das Stück ist eine Adaption des gleichnamigen, autofiktionalen Buches von Kim de l`Horizon, eine nichtbinäre schweizerische Autorperson, die mit „Blutbuch“ den Deutschen Buchpreis 2022 und den Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung gewann. Die Erzählfigur heißt Kim, sie ist in einem Schweizer Vorort aufgewachsen und identifiziert sich weder als Mann noch als Frau. Nun ist die Großmutter, im Schweizerdeutsch Großmeer genannt, an Demenz erkrankt und die Zeit, ihr noch Fragen stellen und ihr letzte Dinge sagen zu können, wird weniger. Kim begibt sich auf die Suche nach der eigenen Familiengeschichte und stößt dabei auf Missbrauch, Tod, Gewalt, Scham und Verdrängung, aber auch auf starke Frauenfiguren, auf Hexerei und eine verschwundene Tante. Diese Suche ist im Grunde ein langer Brief an die Großmeer selbst, die übermächtig, ekelerregend und brutal daherkommt, die das Kind Kim genauso domestizierte, wie sie es an sich selbst auch erfahren hatte. Als Sinnbild für diese familiären Traumata, die jede folgende Generation prägt und überformt, steht die Blutbuche, die im Garten einst aus nationalistischen Motiven vom Urgroßpeer (Schweizerdeutsch für Urgroßvater) gepflanzt wurde, und die in der Kindheit von Kim ein merkwürdig-magisches Eigenleben bekam. Kim stürzt sich in die Nachforschungen zu Blutbuchen und zum eigenen Stammbaum, gleichzeitig trifft er*sie sich mit fremden Männern und lotet die eigenen Lust- und Schmerzgrenzen aus. Genau hier treten die Spuren von Rassismus, Nationalismus und Sexismus, die die Familiengeschichte hinterlassen hat, deutlich zutage. Indem Kim immer weitere Ebenen aufreißt und sich immer tiefer in den Abgrund des kollektiven Schmerzes begibt, wird das Schreiben an die Großmeer letztlich ein Akt der Befreiung und der Heilung.

Die Magdeburger Inszenierung setzt auf die Stärke des Textes und der aufgerufenen Bilder. So besteht die Bühne von Alexandre Corazzola aus einer Podesterie, die das Schreibzimmer von Kim darstellt, einem weißen Fadenvorhang, hinter dem sich die Figuren immer wieder zurückziehen, und einer roten Märchenwald-Kulisse, die auf die Blutbuche aus Kims Kindheit verweist. Die Videoeinsätze (Nico Parisius), die von den Schauspieler*innen selbst gehändelt werden, führen hinter die Kulissen und damit auch hinter die Fassade der Familiengeschichte, was eine besonders schmerzhafte Nähe erzeugt. Das Publikum muss hinsehen, wenn sich Großmeer und Meer (Schweizerdeutsch für Mutter) auf das Kind stürzen, oder wenn es von der Blutbuche selbst durchdrungen wird. In Kombination mit den kreischenden Sounds und dramatischen Musikeinsätzen (Friedrich Byusa Blam) wirkt die Gesamtinszenierung sehr durchdacht und nah dran an der Erzählfigur. Diese ist, wie auch in einigen Inszenierungen zuvor, durch eine kollektive Erzählstimme dargestellt. Das Ensemble, bestehend aus Anton Andreew, Julia Buchmann, Iris Albrecht, Marcel Jacqueline Gisdol, Oktay Önder, Michael Ruchter und Carmen Steinert, spricht, singt, schreit und tanzt durch das zweistündige Stück und schafft eine Spannung im Raum, die sich erst beim Schlussapplaus entladen kann. Es gibt viele Szenen, die so eindrücklich sind, dass sie im Gedächtnis bleiben müssen und die immer wieder zum Nachdenken anregen werden. So sind es vor allem die Szenen, in denen Kim vom Aufwachsen bei der Großmeer erzählt, die den Abgrund sehr plastisch machen. Dem Kind, hier gespielt von Carmen Steinert, die ihre ganze schauspielerische Größe und Vielfalt zeigt, wird etwas angetan, es versucht, auf alles zu reagieren und es zu verstehen, dabei ist die Welt widersprüchlich, die Dinge mit Bedeutung aufgeladen und die Erwachsenen trotz allem abwesend. Die Grausamkeit, wie ein Kind genötigt wird, sich zu entscheiden, einem Rollenmuster, einem gesellschaftlichen Dogma zu entsprechen, ist schwer auszuhalten – es will, es gibt sich Mühe, nur um endlich sich und anderen Klarheit darüber zu verschaffen, was es ist: ein Junge oder ein Mädchen. Es sucht Rat bei der Blutbuche, hier in einer alptraumhaften Darstellung von Oktay Önder. Es versucht, die Mutter, deren Wut alles wie eine Eisdecke überzieht, und die das Kind daher als eine „Eiskönigin“ wahrnimmt, zu besänftigen. Und immer wieder ist es der Großmeer und ihrer übergriffigen, ja auch gewalttätigen Art ausgesetzt. Es ist vor allem die kindliche Perspektive, die hier so deutlich wird, und die eine absolute Stärke des Stückes ist.

In einer anderen Szene folgen wir der erwachsenen Erzählfigur Kim, hier dargestellt von Anton Adreew, auf eine Rave-Party, wo es zu einem bizarren Sexakt zwischen ihm*ihr und einem migrantisch gelesenen Mann namens Farid kommt. Hier zeigen sich die menschlichen Untiefen, denn im Sex stellt sich plötzlich die Machtfrage (Wer fickt hier wen?), die ansozialisierte Selbstkontrolle ist dahin, alles bricht auf, die eigenen Rassismen und Männlichkeits-Projektionen, die jede*r in sich trägt, treten zutage und eines wird klar: Das Monströse ist in uns, es ist nicht einfach weg, es will angesehen werden. Dass sich Kim de l`Horizon und die Magdeburger Inszenierung genau diesen Schattenseiten zuwenden, kann mensch nicht anders als konsequent bezeichnen. 

Zehn Jahre hat Kim de l`Horizon an dem Buch gearbeitet, welches unterschiedliche Genre sowie Schreibstile und Sprachen aufzeigt und damit eine schreibende Suchbewegung nachvollziehbar macht, es ist die Suche nach einer Sprache für nonbinäre Weltwahrnehmung, die sich also nicht ausschließlich in zwei antagonistische Kategorien (männlich – weiblich, Arbeit – Freizeit, wahr – falsch) aufteilen lässt. Binäres Denken hat sich tief in unser Bewusstsein eingeprägt, dabei ist auch das erst mal nichts anderes als eine menschliche Erfindung, nichts „Naturgegebenes“, ein Konstrukt, um sich das Denken zu erleichtern. Doch die Menschen zahlen einen hohen Preis dafür. Von diesem Preis handelt die Geschichte von „Blutbuch“.

Letztlich ist das Buch und auch das Stück ein Liebesbrief an die Großmeer, an unsere Körper, an all die Möglichkeiten, wie wir sein könnten, an die Freiheit und an das Leben selbst.

Text: Angela Mund / bühnenfrei Magdeburg

Fotos: Kerstin_Schomburg / Theater Magdeburg