Das Stück Wolf im Theater Magdeburg spielt an einem Ort, mit dem jede*r ganz eigene Erinnerungen verbindet: Das Ferienlager. Es geht also ans Eingemachte.
Wer hat sie nicht im Kopf, die Bilder von engen Schlafräumen, Reisetaschen voll Süßigkeiten, Nachtwanderungen mit flackernden Taschenlampen und Köch*innen mit fragwürdigen Frisuren? Wenn man an die Ferienlager aus Kindheitstagen denkt, kommen sicherlich viele schöne Erinnerungen zum Vorschein, die Freundschaften, die Aufregung, das Abenteuer, womöglich aber auch all der Schrecken, tagelanges Festsitzen zwischen Heimweh, Schweißgeruch und Übergriffigkeiten. Das Ferienlager kann durchaus ein Ort der Grausamkeit sein. Hier werden die sozialen Rollenkarten nochmal neu gemischt und verteilt, im schlimmsten Fall aber zieht man die selbe „Niete“ wie bisher, dann hat mensch ein Problem.
So ergeht es in dem Stück „Wolf“, eine Uraufführung basierend auf dem gleichnamigen Roman des deutsch-bosnischen Schriftstellers Saša Stanišić, auch dem Jungen Jörg, an dem eigentlich nichts zu finden ist, er mag Bergwanderungen und Origami, doch das ist offenbar Anlass genug, ihn als „anders“ zu markieren. Jörg, anmutig und sanft gespielt von Lorenz Krieger, kommt in so ein brandenburgisches Wald-Ferienlager und sieht sich sogleich mit Marko konfrontiert. Marko, dargestellt von Anton Andreew in einer aalglatten und pointierten Version, ist das Paradebeispiel des aggressiven Täters, laut, dominant und auf subtile Art sehr boshaft. Er und seine Freunde drangsalieren und schikanieren Jörg ohne Unterlass, es sind verbale Gehässigkeiten, aber auch körperliche Attacken, die Jörg ertragen muss, und keine Hilfe erhält. „Manchmal reicht die kleinste Kleinigkeit, damit es losgeht. Einfach am falschen Ort was Falsches gesagt, (…). Und dann kommt das Schlucken und das Dulden und das zu Hause Heulen und vor Angst immer weniger reden und machen, um ja nicht noch mehr „Fehler“ zu machen (…).“ So erzählt es die Hauptfigur des Stücks, Kemi, der eher unfreiwillig ins Ferienlager geschickt wurde und nun dem Geschehen von außen zusieht, es kommentiert, sich zögerlich einmischt, vor allem aber mit den eigenen Ängsten, selbst zum Opfer zu werden, beschäftigt ist.
Philipp Kronenberg zeigt einen Kemi, der selbst nicht dem typischen Jugendhabitus entspricht, wissbegierig, eigenwillig, immer auf Abstand zu den anderen, gleichzeitig zeugen seine Reflexionen von einem durchaus humanistischen Blick auf die Menschen in seiner Umgebung. Kronenbergs Spielweise ist unaufgeregt, präzise und nah an der Figur, fast schon authentisch, und das sollte deshalb hervorgehoben werden, weil das für Jugendtheaterstücke nicht selbstverständlich ist. Da gibt es zuweilen die Falle, sich als erwachsene Schauspieler*innen die Schablone der Jugendlichkeit, oder das, was dafür gehalten wird, aufzusetzen – das macht Kronenberg nicht, stattdessen durchläuft man mit ihm all die emotionalen Höhen und Tiefen, die Kemi im Angesicht des gemobbten Jörg immer stärker erlebt. Er weiß, dass es falsch ist, was da passiert. Soll er sich einmischen, sich Marko entgegenstellen, Hilfe holen? Doch die Angst lähmt Kemi immer wieder, ein Zustand, der uns allen vertraut ist, denn: wie oft sind wir selbst mutlos und erstarrt, wo wir hätten einschreiten und handeln müssen? Wo sind wir weder Opfer noch Täter*innen, aber dennoch seltsam involviert, meistens hilflos, überfordert? Da lassen sich durchaus Parallelen zur vielbeschworenen Zivilcourage herstellen, die in Zeiten von Krisen und Autoritarismus umso dringlicher wäre. Sinnbild für diese Angst, ins Handeln zu kommen, ist der Wolf. Mehr ein Symbol als ein Tier, welches uns als Bestie in Märchen vorgeführt wird und nun selbst zum politischen Kampfplatz avancieren musste. Oft taucht er in dem Stück unvermittelt auf, mal in Kemis Träumen, mal streunt er unter den Fenstern entlang. Er ist Vorahnung, Bedrohung und Geheimnis, er ist das Tierische in uns, wenn das Menschliche nicht mehr greift. Der Wolf spiegelt die Ängste des Menschen, er symbolisiert die Konfrontation mit ihnen, er sieht uns mit seinen gelb leuchtenden Augen direkt in die Seele, das macht ihn faszinierend und abstoßend zugleich. Aber: der Wolf selbst ist gerecht, denn Angst haben irgendwie alle. Nicht das Tier ist grausam, sondern der menschliche Widerspruch. Bei einer Klettertour, bei der Jörg von Marko absichtlich in Gefahr gebracht wird, greift Kemi endlich ein, am Ende hängt Marko selbst in den Seilen. Dies ist der Wendepunkt der Geschichte, was danach passiert, verschwimmt allerdings mehr und mehr, es gibt eine Ferienlager-Party und die obligatorische Nachtwanderung, man erlebt die Gruppe plötzlich vereint in wohliger Schaurigkeit, als dann eine Försterin über den (sicherlich notwendigen) Naturschutz spricht und die Gruppe zu mehr Klimaaktivismus aufruft, verliert das Stück etwas an Fokus. Diese dramaturgischen Unebenheiten des Originalromans von Stanišić (hier in einer Fassung von Clara Weyde und Bastian Lomschè), welches mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde, kann das Stück nicht immer einfangen, gleichzeitig bieten Leerstellen und Stolpersteine auch immer die Chance, dies mit Fantasie und Interpretationswillen zu füllen. Sehr deutlich ausgearbeitet und inszeniert sind die „Erwachsenen“-Figuren, beispielsweise die fast schon stereotyp agierenden Ferienlager-Betreuer*innen, merkwürdig stakkatohaft gespielt vom ganzen Ensemble, die entweder abgelenkt sind oder die jungen Menschen mit leeren Pädagogik-Phrasen zurücklassen. Sie stehen jenen, die Schutz bräuchten, nicht bei, sie übernehmen weder eine Vorbildfunktion noch können sie adäquate Angebote machen – oft sind sie vor allem hampelnde Staffage. Dies wird optisch noch durch das skurrile Kostümbild (Clemens Leander) und durch eine Bühne bestehend aus einem riesigen Wasser-Bassin (Katharina Philipp) unterstützt. So waten die Figuren durch die eigenen Unzulänglichkeiten, in dem Glauben, man selbst sei nicht verantwortlich. „Erwachsene wollen, dass wir wollen, was sie wollen, aber ohne Zwang natürlich“, fasst Kemi dieses Generationen- und Verantwortungsdilemma pointiert zusammen.
Das Stück ist für Kinder ab zehn Jahren ausgewiesen, einige Aussagen sind wunderbar deutlich („Es liegt nicht an dem Jörg, dass er verarscht und blödgemacht wird. (…) Es liegt an den Verarschern und Blödmachern (…).“), andere etwas pädagogisiert (“Gewalt ist keine Lösung!“). Dennoch ist das Thema durch die Inszenierung weit aufgefächert und hält für alle Altersklassen eine Identifikationsmöglichkeit bereit. Vielleicht ist das Stück ein guter Mutmacher für alle, vielleicht hilft es, aus der Sprachlosigkeit zu kommen, den Wolf zum Freund zu machen, vielleicht erinnern sich die Erwachsenen an ihre eigene Jugend und daran, dass auch sie damals jemanden gebraucht hätten, der*die Verantwortung übernimmt.
Text: Angela Mund (bühnenfrei)
Fotos: © Gianmarco Bresadola
© Gianmarco Bresadola
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