Sie sind für uns alltäglich und doch scheinen sie wie ein Relikt aus einem vergangenen Jahrhundert. Von E-Mail und digitalen Kurznachrichten abgelöst sind Briefe nahezu überflüssig. Landet einer im Briefkasten, handelt es sich meist um eine Rechnung. Dazu flattern Mahnungen in den Postkasten oder Werbung, die ohne jede Beachtung direkt in den Müll wandert. Ein Brief ist selten ein Hoffnungsträger – im Gegenteil zu seinem großen Bruder: dem Paket.
Währenddessen eilen die Postbot*innen Tag für Tag durch die Hauseingänge der Städte, um insgesamt 59 Millionen Briefbotschaften abzuliefern. Für einige davon ist Melina zuständig. Über die verteilte Post erfährt sie einiges über die Empfänger:innen. Manche bekommen Dokumente von Scheidungsanwälten und eine Eisdiele erhält gelegentlich Post von Scientology. Zu Johannes, dem Besitzer einer Kaffeerösterei, entwickelte Melina in kurzer Zeit eine persönliche Verbindung. Sie erfährt, dass er in seiner Freizeit leidenschaftlich an seiner Vespa rumschraubt und bekommt als Dank für das Zuhören in ihrer Mittagspause jedes Mal einen Espresso aufs Haus. Als Johannes‘ Frau an Krebs erkrankt, lädt er Melina auf eine Reise nach Italien ein. Sie lehnt ab.
Doch die Menge der beförderten Briefe verringert sich. Privatpersonen als auch Firmen kommunizieren heute per E-Mails und auf digitalen Kanälen, sodass niemand tagelang auf eine Antwort warten muss. Das merkt auch Melina, ein Stressfaktor bleibt ihr Job trotzdem. Weniger Stress hätte sich auch Linda gewünscht. Ihr Briefkasten liegt vier Autostunden abseits von Melinas Postroute. Doch die Schuld, dass Linda auf diesen eine bestimmte Schreiben lange warten muss, liegt nicht bei ihrem Postboten.
Sofort nach dem Aufstehen prüft Linda ihr Postfach. Die Leere, die sie vorfindet, ist der Hohn ihrer Routine. Dieser Brief lässt sich Zeit und sie bekommt zu spüren, dass es eine ausschließlich einseitige Abhängigkeit ist. Es vergehen Monate, bis sich ihr Warten lohnt. Und dann ist er auf einmal da. Ihre Hände zittern, als sie den Umschlag aufreißt und ihr Glück in den Händen hält. Ihre Ausbildung wird mit einem zinslosen Staatsdarlehen nach dem BAföG gefördert. Ihr Nebenjob deckt bisher nur knapp die Miete und ihre Eltern können sie nur schwer unterstützen. Dieses Schreiben bedeutete für Linda Freiheit – schwarz auf weiß. Der Brief füllte neben dem Postkasten auch ihren Geldbeutel und ihre Augen mit einigen Tränen.
Sobald es um Geld geht, wird auch Melina aufmerksam. Besonders die gelben Umschläge der Bußgeldbescheide stechen ihr aus der weißen Masse in der Posttasche ins Auge. Einmal überbringt sie einem Cafébesitzer in ihrer Heimatstadt sechs Briefe auf einen Schlag. Alle sind gelb und müssen von ihr als Nachweis unterschrieben werden. Aus der Zeitung erfährt sie später, dass der Besitzer kurz darauf verschwand.
Wegen des Postgeheimnisses ist es Melina verboten, einen Blick auf die Zeilen zu werfen, die sie verteilt. Schwer fällt ihr das im Alltagsstress nicht. Bei Postkarten muss sie sich allerdings zusammenreißen und der Versuchung widerstehen. Aus Italien gesendete Grüße sind es, die sie noch heute im Gedächtnis behält. Ich vermisse dich, mein Sonnenschein.
Immerhin verfassen rund 60 Prozent der Deutschen gelegentlich Briefe persönlich. Junge Erwachsene sogar häufiger als Menschen im Ruhestand. Von Hand geschriebene Geburtstagsgrüße werden dabei meist auf das Papier gebracht, danach folgen Beileidsbekundungen bei Trauerfällen. Es geht im wahrsten Sinn um Leben und Tod und ab und zu um die Liebe. Und die kennt bekanntermaßen keine Distanz.
Melina läuft rund zwölf Kilometer am Tag, manche ihrer Kolleg*innen das Doppelte. Nichts im Vergleich zu der längsten Poststrecke in Deutschland. 1069 Kilometer Weg von Nord nach Süd, von List auf Sylt nach Einödsbach in Bayern. Zu Fuß liefe man neun Tage an einem Stück, ein Brief würde schon nach einem Drittel der Zeit zuhause anklopfen.
Bei Niklas klopft niemand an, weder Postbotin Melina noch seine Freundin Jana, nach deren Anwesenheit er sich sehnt. Denn Jana ist wegen ihres Studiums hunderte Kilometer weggezogen und Niklas bleibt zurück. Sie führen eine Fernbeziehung, obwohl sie sich erst vor Kurzem kennengelernt haben. Die Telefonate sind virtuelle Grüße, doch sie ersetzen keine Umarmung und erst recht keinen Kuss. Gerade die ersten Wochen ohne seine Freundin sind für Niklas hart. Er hat sich mit seiner Mutter zerstritten und wohnt seitdem bei seinem Vater, der selten zuhause ist. Jana versucht, so oft und so lange wie möglich mit ihm zu telefonieren, doch durch ihr neues Studium kann sie sich nicht so viel Zeit nehmen wie sie will.
Als Niklas beim Durchblättern der Post zwischen den Werbeprospekten einen rosafarbenen Umschlag mit seinem Namen darauf sieht, wusste er sofort, dass dieser von Jana ist. Für einen Moment war es so, als stehe er neben ihr. Zwei Seiten hat sie geschrieben. Sogar mit ihrem Parfüm, das er so gern an ihr mag, hat sie das Papier eingesprüht. Ihre Worte tragen ihn hunderte Kilometer weiter. Die Mine des Kugelschreibers ist tief in das Papier gedrungen, sodass Niklas die Wörter fühlen kann und er fühlt sie mit seinem Herzen. Sie formen auf dem karierten Papier des Collegeblocks zwar ein Durcheinander aus Bögen, Punkten und Strichen. Aber das Durcheinander ist für ihn bestimmt und schafft es, für einen Moment Ordnung in sein Chaos des Lebens zu bringen. In Liebe, deine Jana.
Hätte Jana einen Herz-Emoji per WhatsApp geschickt, müsste Niklas die Bedeutung zwischen den Zeilen herauslesen. Ein auf Papier geschriebener Liebesbrief ist hingegen ehrlich, Missverständnisse sind ausgeschlossen. Es ist ein Beweis dafür, dass man jemandem am Herzen liegt. Für dieses aus Worten gemalte Bild wird sich Zeit genommen.
Zudem verrät kein blauer Haken den Absender:innen, dass der Umschlag aufgerissen und die Nachricht geöffnet wurde. Einen Brief kann man hundertmal lesen, bevor man sich auf eine Antwort einlässt. Diese kann gedreht und gewendet, zerknüllt, zerrissen und wieder zusammengeklebt werden. Eine schriftliche Antwort kann bei Wunsch nach Bedenkzeit für eine Nacht unter dem Kopfkissen liegen und am Ende trotzdem nicht abgeschickt werden.
Mit dem Gegentrend zur Digitalisierung kommt man sich selbst näher. Und danach fühlt man sich ein wenig besser. Diese Art der Selbstreflektion kann kein Notebook leisten. Die Kraft der selbstgeschriebenen Worte hat mit dem Lauf der Jahre nichts an ihrer Wirkung eingebüßt.
So finden nicht nur zuckersüße Liebesgrüße ihre Wege zu den Empfänger*innen, sondern auch hasserfüllte Drohungen. Dem widersetzt sich so mancher Briefkasten und fordert mit einem feinen Schriftzug am Einwurf Nur Liebesbriefe. Es ist keine Anweisung, nur eine Bitte, die an keine weitere Bedingung geknüpft ist.
Für Melina fühlt es sich wie Weihnachten an, wenn sie Briefe bekommt; ein Geschenk aus Worten. Oft erinnert sie sich deshalb an ihre Brieffreundschaften aus Kindheitstagen zurück. Doch je älter sie wurde, desto weniger wurden die Briefe.
Mittlerweile erreicht sie nur noch selten eine persönliche Nachricht, obwohl sie von Berufs wegen damit täglich zu tun hat. Die Überbringerin von zahllosen Botschaften wünscht sich mehr persönliche Briefe als digitale Nachrichten. Es muss auch nicht sofort ein Liebesbrief sein.
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