Noch im Februar zündete das Ballett Theater Magdeburg mit Borgia ein „Feuerwerk des Könnens“ (Lena Schubert für Tag24, 18.02.2024). Ende März dann lieferte die Compagnie mit der Premiere von Horizonte eine weitere „überzeugende Arbeit“ ab, die „neue Impulse für die Tänzer:innen aber auch das Publikum“ (Torben Ibs für Die deutsche Bühne,24.03.2024) setzte. Ab den 30. April 2024 – nur wenige Wochen nach der letzten Premiere – lud das Ballett in Kooperation mit dem Kunstmuseum Kloster Unser Lieben Frauen zu einem besonderen choreografischen Leckerbissen und gleichermaßen Streifzug durch die Räumlichkeiten des Museums ein – die Grand Tour.

Wir haben Federico Zeno Bassanese, Chloe Jones und Jade Ribaud aus der Compagnie getroffen und nach ihren persönlichen Motiven und Inspirationen gefragt.

Ballett Theater Magdeburg © Ida Zenna

Die Produktion unterscheidet sich massiv von den vorherigen Ballettveranstaltungen. Zum einen verlassen die Choreograf:innen und Tänzer:innen ihre gewohnten Bühnen im Opern- und Schauspielhaus und zum anderen verleihen nicht nur ein oder zwei Choreograf:innen diesem Abend ihre persönliche Handschrift. Neben dem Ballettdirektor Jörg Mannes erhalten gleich sieben Tänzer:innen der Compagnie die Möglichkeit, eigene Choreografien mit dem Ensemble zu entwickeln und aufzuführen: Federico Zeno Bassanese, Gennaro Chianese, Fiammetta Gotta, Chloe Jones, Marco Marangio, Antanina Müller und Jade Ribaud.

Alle verfolgen sie einen eigenen Ansatz, nähern sich über unterschiedliche Fragen, Emotionen und Materialien dem Thema an und erschaffen ein facettenreiches Mosaik persönlicher Geschichten, die aber stets miteinander verwoben und verbunden sind. Sie alle eint die fundamentale Frage nach den Beweggründen, denen sich Menschen der Kunst und Kreativität zuwenden.

Die Grand Tour, aus dem Französischen als eine „große Reise“ zu übersetzen, war eine seit der Renaissance verbreitete Bildungsreise, die den Abschluss der Erziehung darstellte. Die Reisenden suchten bedeutende Städte insbesondere im Süden Europas auf. Sie studierten die für diese Städte und Länder bekannten Bauwerke, Kunstschätze und Traditionen. Dadurch erwarben sie neues Wissen, erweiterten ihre Sprachkenntnisse, verfeinerten ihre Manieren und erwarben somit Status und Prestige. Es sollte wenig verwundern, dass das Privileg einer Grand Tour nahezu ausschließlich den Söhnen adliger und großbürgerlicher Familien vorbehalten war.

Ballett Theater Magdeburg © Ida Zenna

Federico Zeno Bassanese tanzt seit 2018 als festes Ensemblemitglied am Theater Magdeburg und ist darüber hinaus, wie aktuell für die Grand Tour, als Choreograf und künstlerischer Leiter tätig. Zum Ende der aktuellen Spielzeit blickt er auf elf Jahre, in denen er als professioneller Balletttänzer auf den verschiedensten Bühnen in Europa zu sehen war, zurück. Langweilig wird ihm aber nie. Die Zusammenarbeit mit den Tänzer:innen, Choreograf:innen und dem Team hinter der Bühne bringt immer wieder neue Herausforderungen mit sich, denen er sich kreativ nähern und an denen er wachsen kann.

Wenn Federico eine Musik hört, entstehen bestimmte Bewegungsbilder vor seinen Augen. Während der Zusammenarbeit mit den Tänzer:innen versucht er diese Bilder zu einem großen Puzzle zusammensetzen. Hier sind sehr viel Ausdauer und Freude am Ausprobieren gefragt. Die Tänzer:innen bringen unterschiedliche Ausbildungen, Erfahrungen und Stile mit. Welche Ideen funktionieren, welche weniger?
Der Probenprozess gleicht einem ständigen Lernprozess, der viele Herausforderungen mit sich bringt – auch in dispositioneller und technischer Hinsicht. Die Größe der Ausstellungsräume, die Bodenbeschaffenheit, der Klang, die Lichtverhältnisse – sie alle sind nicht zu vergleichen mit den Standards im Theater und erfordern eine sorgsame Auseinandersetzung.

Die Zuteilung der verschiedenen Ausstellungsräume unter den Choreograf:innen war nicht einfach. Als Jade Ribaud die Krypta betrat, wusste sie sofort, dass sie diesen Raum bespielen möchte. Die geheimnisvolle Atmosphäre, die von diesem Ort ausging, löste sofort Assoziationen in ihr aus. Für ihre Choreografie fasst sie Kunst als ein Ausdruck von Freiheit zusammen, räumlich als auch zeitlich unbegrenzt. Jade ist seit der aktuellen Spielzeit 2023/24 Praktikantin im Ballettensemble. Zuvor schloss sie ihre Ballettausbildung an der Königlich Schwedischen Ballettschule in Stockholm sowie im Johan Youth Dance Projekt in Sevilla ab.

Chloe Jones führte ihr Weg bereits zur vergangenen Spielzeit 2022/23 nach Magdeburg. Zuvor tanzte sie in Birmingham, Amsterdam, Olomouc und beim EBB Junior Ballet in Frankreich. Im Oberen Tonnengewölbe wie auch im Treppenhaus auf den Weg ins Obergeschoss zeigt sie uns ihre Choreografie. Die Inspiration dafür fand sie in der Musik des Barockkomponisten Arcangelo Corelli. Seine Violinenmusik verkörpert ein Spektrum an unterschiedlichen Dynamiken, auf denen sie die Tanzschritte aufbauen konnte. Chloe betrachtet in ihrer Choreografie die Grand Tour aus einer verstärkt literarischen und kritischen Perspektive. Dabei stellt sie sich die Frage, wem es offenstand, auf eine Bildungsreise zu gehen und welche Rolle das Geschlecht, der Bildungshintergrund und der sozio-ökonomische Status der jungen Menschen spielte.

Ballett Theater Magdeburg © Ida Zenna

Die Choreografien sind facettenreich – mal humorvoll, mal melancholisch und mystisch und dann erotisch und elektrisierend. Sie werfen Fragen auf, suchen nach Verknüpfungen und blicken auf ihre persönlichen Beziehungen zum Tanz und zur Kunst. Gemeinsam mit den Tänzer:innen bewegen wir uns durch die Museumslandschaft. Wir passieren die Klosterkirsche mit der Krypta, bestaunen die Ausstellungsräume moderner und bildender Kunst und enden am Kreuzgang. Auch musikalisch ist der Abend alles andere als eintönig. Es erklingen Kirchenmusiken, Ballett- und Filmkompositionen als auch zeitgenössische und experimentelle Musikstücke. Sogar eine Uraufführung verspricht das Programm.

Der Museumsraum wird zum Erfahrungsraum. Alles ist in Bewegung. Alles ist im Fluss. Selbst die Zuschauer:innen sind nicht länger nur zurückhaltende Betrachter:innen und Rezipient:innen. Sie entscheiden, ob sie der Einladung folgen, sich auf eine sinnliche und emotional erregende Reise einzulassen. Eine Reise, die über das Körperliche und Materielle hinaus miteinander verbindet. Eine Reise, die die Kunst nicht ihrer selbst willen feiert, sondern als eine Suche, einen Schaffensprozess, als ein Ereignis in den Blickwinkel nimmt. Die Zuschauer:innen sind mittendrin und erleben die Architektur und Artefakte des Museums aus einer neuen, zutiefst intimen Perspektive.

Nach zwei Stunden sind wir am Ende der Reise angekommen. Mit der Grand Tour hat das Ballett des Theaters Magdeburg ein Gesamtkunstwerk von überragendem Einfallsreichtum und Präzision vorgelegt. Das Publikum dankt dem Ensemble mit anhaltendem Applaus. Die Eindrücke, die dieser Abend hinterlassen hat, dürften aber noch lange nachhallen und auch beim nächsten Besuch des Kunstmuseums (dann leider ohne die fantastischen Tänzer:innen) wieder lebendig werden.

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Alle Vorstellungen der Grand Tour in dieser Spielzeit sind abgespielt! Ob es eine Wiederaufnahme geben wird und welche spannenden Premieren das Ballett Theater Magdeburg in der kommenden Spielzeit bereithält, erfahren wir ab den 29. Mai, wenn die Premieren und Wiederaufnahmen der Spielzeit 2024/25 vorgelegt werden. Alle Informationen zu den Produktionen des Magdeburger Balletts gibt es auf der Website des Theater Magdeburg.

Text: Tobias Bachmann (letzte Aktualisierung: 10.05.2024)