Vorsichtig hocke ich mich auf den Boden. Meine Hände sind kalt und taub. Ich reibe sie fest aneinander, um meine Finger wieder spüren zu können. Der stetige Regen durchnässt meine Kleidung und ich kann kaum noch durch meine Brille sehen. Die Sonne ist längst untergegangen. Doch heute will ich mich davon nicht aufhalten lassen. Ich schaue mir die zwei kleinen Messingplatten vor meinen Füßen an und entferne mit meiner Hand vorsichtig den groben Dreck der Straße.
© Dana Popp
Auf einen Schwamm tropfe ich Metallputzmittel und reibe es in kreisenden Bewegungen auf den Stein. Ich nehme einen nassen Lappen und wische ein letztes Mal darüber, um die Spuren des Putzmittels zu entfernen. Es liegt ein chemischer Geruch in der Luft. Die Messingplatten glänzen in neuem Schein, sodass die kleinen eingravierten Buchstaben besser zur Geltung kommen. Hier wohnte „Hermann Lerner“ und „Cecilia Lerner“, geboren 1888 und 1892. Ausgewiesen 1988. Ermordet in Auschwitz.
Es ist ein kalter Novembertag. Auf den Straßen in Magdeburg sind nur wenige Menschen zu sehen. Doch ich mache mich auf den Weg in Richtung Innenstadt. Es ist der 8. November 2019. Ein Tag vor dem 81. Jahrestag der Reichspogromnacht. Nicht weit vom Hasselbachplatz entfernt, hat sich eine Gruppe von rund 25 Menschen versammelt. Sie sind fast alle Mitglieder aus verschiedenen Parteien und Organisationen. An diesem Nachmittag haben sie ein gemeinsames Ziel. Sie wollen ein Zeichen gegen Fremdenfeindlichkeit und das Vergessen setzen. Daher sollen die über 500 Stolpersteine in Magdeburg geputzt werden. Stolpersteine zeigen die Namen und einige Daten von Opfern des Nationalsozialismus. Dort, wo die Menschen aus der Haustür ihres letzten frei gewählten Wohnortes oder ihrer Wirkungsstätte auf die Straße getreten sind, wurden die Steine verlegt.
Treffpunkt der Aktion ist der offiziell erste Stolperstein Magdeburgs hinter dem alten Rathaus. Es ist der Stein des ehemaligen Bürgermeisters Herbert Goldschmidt und seiner Frau Margarethe. Eine ältere Dame ergreift das Wort. Sie hat kurzes braunes Haar und eine runde Brille. Es ist Waltraut Zachhuber. Sie ist mit verantwortlich, für die Verlegung der Stolpersteine in Magdeburg. „Wir müssen wachsam gegenüber Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit
sein, denn die Grausamkeiten, die vor gut 80 Jahren geschehen sind, dürfen nicht wieder passieren.“ Nicht nur Juden, sondern genauso Opfer der Roma und Sinti, Widerstandskämpfer, Beeinträchtigte, Homosexuelle, Zeugen Jehovas, ermordete Zwangsarbeiter, KZ-Häftlinge und Kriegsgefangenen können einen Stolperstein erhalten. In Magdeburg werden dieses Jahr die Steine einen Tag früher geputzt. Sie wollen den jüdischen Opfern damit gerecht werden, denn der 9. November fällt dieses Jahr auf den Sabbat.
Nach der Rede von Waltraut Zachhuber, teilen wir uns in Gruppen ein. Im Vorfeld wurde bereits festgelegt, welche Partei oder Organisation welchen Stadtteil übernimmt. Ich gehöre keiner dieser Gruppen an und entscheide mich dafür die Jusos zu begleiten. Mit Lappen, Schwämmen, Metallputzmittel und einer Karte ausgestattet, machen wir uns auf den Weg. Bei unserem ersten Stein, den wir putzen wollen, haben wir Probleme. Wir können ihn nicht finden. Die Messingplatten sind nur 10x 10 cm groß und sind daher auch leicht zu übersehen. Nach einigen Minuten finden wir gleich zwei Messingplatten mitten auf dem Fußweg. Sie sind stark verschmutzt und haben schon einige Kratzer im Metall. Sie sehen so aus, als wären sie schon länger nicht geputzt wurden. Wir vermuten, dass sie bei der letzten Putzaktion vergessen wurden. Als wir beginnen den ersten Stein zu säubern, fängt es langsam an zu regnen. Leider habe ich weder eine Regenjacke noch einen Schirm dabei. Doch das soll mich heute nicht aufhalten.
Ein Stolperstein nach dem anderen leuchtet wieder in neuem Glanz. Vorbeilaufende Menschen schauen neugierig, was wir dort am Boden machen. Vielleicht halten sie nun auch einen Moment inne und denken an die zahlreichen Opfer in Magdeburg. Manchmal lesen wir auch die eingravierten Namen vor und ich frage mich, was wohl ihre Geschichte ist. An manchen Orten sind nur einzelne Stolpersteine, an anderen sind es ein Dutzend. Unter ihnen auch zahlreiche Kinder. Im Jahr 1928 lebten rund 3.200 jüdische Menschen in Magdeburg. Fast die Hälfte von ihnen wurde ermordet.
Nach der Putzaktion findet eine Mahnwache an dem Mahnmal der Magdeburger Synagoge statt. Diese wurde damals von der SA, SS und der Hitlerjugend in den Novemberpogromen 1938 im Inneren zerstört und 1939 gesprengt. Nun soll eine neue Synagoge in Magdeburg gebaut werden. Die erste Gruppe, welche am Mahnmal ankommt, zündet eine Kerze an. Doch gegen den anhaltenden Regen hat die kleine Flamme keine Chance. Sie erlischt, so wie das Leben vieler vor 81 Jahren.
Langsam machen sich die Ersten auf den Heimweg. Nicht alle Steine konnten heute geputzt werden. Diejenigen rund um den Hasselbachplatz wurden nicht mehr geschafft. Alle sind durchgefroren und wollen schnellstmöglich ins Warme. Doch ich entscheide mich mit einem weiteren Freiwilligen noch einmal an den Hasselbachplatz zu fahren. Dort liegen meiner Ansicht nach, zwei besondere Steine. Es sind die von „Hermann und Cecilia Lerner“. Sie waren inoffiziell die ersten beiden Stolpersteine in Magdeburg. Aus zeitlichen Gründen mussten diese vor dem Stein von Herbert Goldschmidt und seiner Frau gelegt werden. Doch noch etwas anderes macht diese beiden besonders. Es ist ihre Tochter Chava. Sie hat ihre Lebensgeschichte als Buch veröffentlicht und somit auch das ganze Schicksal ihrer Familie. Wir säubern die beiden Stolpersteine und sie erstrahlen in einem neuen Glanz. Danach mache auch ich mich auf den Heimweg.
Einige Wochen später treffe ich Waltraut Zachhuber in ihrer Wohnung nur wenige Meter vom Hasselbachplatz entfernt. Es regnet. Langsam habe ich das Gefühl, der Regen ist ein stetiger Begleiter meiner Geschichte. Waltraut Zachhuber erzählt mir von Chava und ihrer Freundschaft. „Sie war ein sehr liebevoller und warmherziger Mensch“. Mehrere Male haben sie sich gegenseitig in Magdeburg und Israel besucht. Das erste Mal trafen sich die beiden, als Opfer des Nationalsozialismus nach Magdeburg eingeladen wurden. Aus dieser Begegnung entstand eine langjährige Freundschaft. Als Waltraut Zachhuber sie vor einiger Zeit wieder in Israel besuchen wollte, bekam sie keine Antwort. Nach einiger Recherche fand sie heraus, dass Chava in hohem Alter gestorben ist. Als ich gehe, schenkt sie mir ein Exemplar der Lebensgeschichte von Chava. Das Schicksal der Familie Lerner geht mir sehr ans Herz. Eine Passage des Buches, die mich nicht loslässt, handelt von der Jugend Chavas.
„Wenn das Judenblut vom Messer spritzt“, hörte man täglich auf den Straßen Magdeburgs. Egal wohin man den Blick richtete – überall waren Hakenkreuzabzeichen zu sehen. Es war das Jahr 1935 und schon bald hatte Chava „Rassenkunde“ im Unterricht. Zuerst dachte sie, es würde sich dabei um verschiedene Pferde- oder Hunderassen drehen. Dabei ging es um verschiedene Menschenrassen. Als sie das erste Mal das neue Unterrichtsfach hatte, wurde sie als Beispiel für ein arisches Mädchen gezeigt. Groß, blond und mit blauen Augen, sowie heller Haut. Alle Kinder lachten, denn sie war die einzige Jüdin im Unterricht und damit nicht arisch. Da fiel den Kindern auf, wie absurd dieser Unterricht war. Wenig später durften sie und ihre kleine Schwester gar nicht mehr in die Schule. Sie war 15, als sie sich von ihren Lehrern verabschieden musste, welche allesamt anfingen zu weinen. Doch sie und ihre Schwester taten es nicht, dafür waren sie zu empört.
Ich verlasse die Wohnung von Waltraut Zachhuber. Wieder stehe ich draußen im Regen, weniger als ein Kilometer entfernt – die Stolpersteine des Ehepaars Lerner. So schnell wird mich ihre Geschichte wahrscheinlich nicht loslassen, aber ich denke, das ist auch gut so. Denn so wird auch viele Jahre nach ihrer Ermordung noch immer an sie gedacht. Von nun an möchte ich immer einen Moment innehalten, wenn ich einen Stolperstein vor meinen Füßen sehe und ihre Namen lesen. Damit ich mich daran erinnere: „Hier waren sie zu Hause, auch bei mir nebenan.“
Ich mache mich auf den Heimweg. Als ich vor meiner Haustür stehe, senke ich den Blick. Auf dem Boden, zwischen den Pflastersteinen, sehe ich eine kleine Messingplatte. Ich beuge mich nach vorne. Hier wohnte Berta Löwe. Jahrgang 1864. Deportiert 1942. Theresienstadt. Ermordet 2.5.1943.
Von Dana Popp
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