„Ohren zu halten und Mund auf!“, ruft ein Mann in Uniform lautstark. Jeden Moment geht es los. Dann werden aus den alten Kanonen des Ravelins Schüsse gefeuert. Um Trommelfellschmerzen zu vermeiden, soll sich das Publikum die Ohren zu halten. Der Mund muss geöffnet werden, um einen Druckausgleich für die Schalwelle zu haben, die die Kanonen auslösen. Nach sechs Schüssen ist dann auch Schluss für heute. Ein weiteres Kanonenschießen gibt es dann erst wieder beim nächsten Spectaculum.
In der Luft liegt nun ein explosiver Geruch von Schießpulver und dieser passt zur Atmosphäre. Ein Jahr lang musste das Spectaculum, das größte Mittelalterfest Magdeburgs, aussetzen. Nun ist es zurück und die Freude in den Gesichtern der Gäste ist nicht zu übersehen. Sämtliche Besucher sind in mittelalterlichen Kostümen gekommen. Für sie scheint das Fest eine Ekstase auszulösen, die sonst nur kleine Kinder an Heiligabend vor dem Weihnachtsbaum versprühen. Volker Bergmann könnte mit seinen schulterlangen grauen Haaren und seinem langen weißen Bart auch gut einen Weihnachtsmann abgeben. Er ist Stammgast des Spectaculums. Von Beginn an ist Bergmann dabei, hat das Mittelalterfest bisher noch nie verpasst. Als er vor 18 Jahren beim ersten Spectaculum vor Ort war, wurde er von der Faszination zum Mittelalter infiziert. Das Interesse hat ihn daraufhin nie wieder losgelassen. Die alljährlichen Besuche auf dem Fest sind für ihn zur Tradition geworden. Laut Volker Bergmann ist das Spectaculum ein „Muss“ für jeden Mittelalterfan. Sein Kostüm verstärkt diesen Gedanken. Ein weißes, langes Hemd und darüber eine Schafsfellweste. Die einjährige Pause traf ihn schwer. Dass er dieses Jahr wieder seiner Leidenschaft nachgehen kann, ist für ihn „Freude pur.“
Das Spectaculum findet in den Glacis-Anlagen statt und ist Teil der Magdeburger Festungstage. Der Name Glacis bezeichnet ursprünglich im Militärischen das freie Feld vor einer Festungsanlage. Einen Knotenpunkt der viertägigen Veranstaltung bildet das Ravelin 2. Das Ravelin ist eine ehemalige Festungsanlage im Herzen des Glaci, wie die Glacis-Anlagen von den Magdeburgern genannt werden. Ravelin bedeutet „Vorschanze“. Das Ravelin 2 war demnach die Vorschanze des Schussfeldes der Magdeburger Westfront in verschiedenen Kriegen.
Der Sanierungsverein Ravelin 2 hat es sich vor sieben Jahren zur Aufgabe gemacht, die zu diesem Zeitpunkt heruntergekommene Festungsanlage zu sanieren. Ein Mitglied der ersten Stunde ist Andreas Witt (32), dessen Freude über das heute stattfindende Spectaculum riesig ist. Ursprünglich kommt er aus dem Jerichower Land, 30 Kilometer von Magdeburg entfernt. Für ein technisches Studium zog es ihn in die Landeshauptstadt Sachsen-Anhalts. Doch das machte ihn nie glücklich. Als er einmal das Ravelin besuchte, wurde ihm klar, dass seine berufliche Zukunft im kulturellen Bereich liegt. An seine Anfänge beim Sanierungsverein erinnert er sich noch genau: „Das war damals 2014, als Deutschland bei der WM gegen Portugal gespielt hat. Da haben wir hier praktisch begonnen, dass Ravelin wieder in Schuss zu bringen.“ Heute, sieben Jahre später, ist Witt ein gefragter Mann auf dem frisch sanierten Gelände des Ravelins. An seinem Hosenbund ist den ganzen Tag ein Walkie-Talkie. Prompt kommt die nächste Anfrage rein und er muss wieder ans andere Ende des Festes, um dort zu helfen. Ausnahmsweise trägt Witt, im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen, heute keine Uniform. Dafür muss er sich zu viel und zu oft auf dem Gelände bewegen. Außerhalb von Veranstaltungstagen bietet der Sanierungsverein auch Führungen durch das Ravelin an. Dann schmeißt sich Andreas Witt in seine Uniform und begrüßt die Gäste stets mit: „Tachschen, Sie sind anjetreten zur Festungsinspektion? Dann folgen `se mir ma.“
Aber heute bleibt keine Zeit für Führungen und schon ist der 32-Jährige wieder auf dem Weg zum nächsten Brennpunkt auf dem Spectaculum.
Der Geruch des Schießpulvers ist gerade verflogen und schon setzen sich wieder die typischen Festivalaromen durch: Zigaretten und Essbares. Kulinarisch hat das Magdeburger Mittelalterfest einiges aufgefahren. Von frisch zubereitetem Gebäck, über Zuckerwatte und Waffeln bis hin zu Bratwurst und natürlich selbstgebrautem Festungsbier. Ein trübes, goldgelbes Getränk, dass die meisten aus Gläsern, manche aber auch ganz altertümlich aus Hörnern trinken. Dursten oder Hungern muss heute niemand beim Spectaculum. Vielleicht liegt hierin der Unterschied zum wahren Mittelalter.
Im Glaci wird der klare blaue Sommerhimmel von kleinen Rauchwolken verfälscht. Sie stammen von Sören Pückewitz und seiner Schmidanlage. Fasziniert blicken Kinder- und Erwachsenenaugen auf die Glut und Pückewitzs Werkzeuge. Auf einem Amboss formt er gerade ein Messer mit seinem Hammer. Davor liegen schon sämtliche Löffel und Gabeln, die bereits am heutigen Tage entstanden sind. Wer mag, kann diese kaufen.
Auch für Schausteller wie Sören Pückewitz ist die Rückkehr des Spectaculums eine Erleichterung. Zwar ist es für ihn eher ein Hobby, dennoch ist er froh, dass er wieder auf Mittelalterfesten – und Märkten mit seiner Schmidkunst vertreten sein kann. Pückewitz sieht das Schmiden nicht als Arbeit an, sondern als Möglichkeit, um einmal abzuschalten. Entstanden ist diese Leidenschaft durch einen Bekannten aus dem Sanierungsverein, der auch Schmid ist. Die Begeisterung an Pückewitz‘ „Hobby“ von zahlreichen Besuchern ist dabei ein netter Nebeneffekt.
Trotz vieler Gäste in Mittelalterkleidung, scheint es beim Spectaculum nicht so als wäre jeder oder jede vor Ort Mittelalterfan. Bei manchen Gästen verstärkt sich der Eindruck, dass diese nur erschienen sind, weil sie eine lange Dürreperiode von Veranstaltungen hinter sich haben. Endlich findet wieder etwas in Magdeburg statt, das darf sich keiner entgehen lassen. Immerhin ist ihnen diese zurückgewonnene Freiheit einen Eintrittspreis von acht Euro wert. Den Mittelalterfans auf dem Fest ist der Preis egal. Für sie ist das Spectaculum eine Instanz, der sie immer beiwohnen, egal wann oder bei welchem Wetter. Auffällig: Das Publikum ist im Altersdurchschnitt vergleichsweise jung. Mittelalterkult wird schnell mit älteren Menschen verbunden, doch auf dem Spectaculum sind viele junge Familien zu sehen. Selbst Kinder rennen in Mittelalterkostümen herum und sind begeistert von den gebotenen Attraktionen. So gibt es für sie unter anderem ein Kettenkarussell, das als Hexenflugschule dient. Ein paar Meter weiter blicken zwei kleine Mädchen nach oben. Vor ihnen stehen zwei Hexen in der Größe von Dirk Nowitzki. Mit den Kleinen diskutieren sie darüber, was Menschen heute so essen. „Pizza.“, antworten die beiden Mädchen. Die gibt es heute nicht auf dem Spectaculum zu finden, das angebotene Knobi-Brot kommt dem wohl am nächsten.
Der Himmel ist mittlerweile dunkel geworden und die Mittelaltermeute lichtet sich immer stärker. Die Stimmung ist, wie auch schon das ganze Fest über, heiter. Es ist lange her, dass solche Menschenmassen glücklich draußen zu sehen waren. In zwei Tagen wird nichts mehr vom Spectalum zu sehen sein, doch Magdeburg wird weiter darüber reden. Und desto länger über das Mittelalterfest geredet wird, umso kürzer ist die Wartezeit auf das nächste.
© Maurus Moritz
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