Der hält Magdeburg den Spiegel vor. Buntes Studentenviertel, lebendiges Nachtleben, aber auch eingestuft als Kriminalitätsschwerpunkt.

Das Läuten der Straßenbahn lässt den Hasselbachplatz kurz still wirken. Doch mit dem Abklingen des Geläuts, nimmt man den Lärm wieder wahr. Kinder rennen unbedacht zu ihrer Haltestelle. Fahrradfahrer verlassen Schweißgebadet den Kreisel und sind froh ein weiteres Mal den Hassel passiert zu haben, ohne dass sie unter die Räder eines Autos, Busses oder einer Straßenbahn gekommen sind. Gewohnheitstrinker sitzen zurück gelehnt auf einer ihrer Parkbänke, schauen sich das Spektakel an, während sie in der Mittagssonne ihr zweites, manche auch ihr drittes, Sterni trinken. Ein Ort irgendwo zwischen glanzloser Gosse und gentrifiziertem Szeneviertel.

Kein Ort repräsentiert Magdeburg wie der Hassel. Aus Westdeutschland zugezogene Vollzeitstudenten treffen auf DDR-Omis, frisch gewordene Eltern teilen sich mit acht WGs ein Haus und abends schleichen Jugendliche über den Bürgersteig, während Bauarbeiter ihren Feierabend vorm Späti ausklingen lassen. Der Hasselbachplatz bringt die Stadt zusammen. Minütlich fahren die Straßenbahnen ein und aus, jede zweite Linie kommt am Hassel vorbei. Es sind die Stammkneipen, die Spätis, dessen Kassierer man per du kennt und das Wiedersehen bekannter und oft auch unbekannter Gesichter, die die Leute hierherbringen. Es lässt eigentlich nichts darauf schließen, dass der Hasselbachplatz einer der kriminellsten Orte Magdeburgs ist.

Wir reden da nicht von Fahrraddieben oder kleinen Ladendiebstählen im Kiosk, jedenfalls nicht nur. Immer wieder kommt es zu Auseinandersetzungen und Schlägereien. „Aber das gehört halt zum Hassel dazu“, sagen die älteren Herren auf den grünen Bänken. Sie kennen es wahrscheinlich nicht anders. Die Herren sitzen an der Seite und wirken wie Zuschauer eines Tennisspiels. Ihre Blicke schwenken hin und her, als würden sie einen Ballwechsel verfolgen. Früher waren sie noch unter den Gewaltsuchenden, heute sitzen sie als stiller Beobachter daneben. Meistens geraten die Hooligans mit anderen Grüppchen, die einer gewaltsamen Lösung nicht abgeneigt sind, aneinander, doch es kam auch schon zu Auseinandersetzungen mit der Polizei. Erst vor kurzem wurde darüber diskutiert, ob der Hasselbachplatz, neben dem Hauptbahnhof, zur zweiten Waffenverbotszone in Magdeburg werden soll. Ansässige Händler forderten dies, um die sogenannte Aufenthaltsqualität wieder herzustellen, doch die Polizei wollte das nicht umsetzen. Der Grund: Da der Hassel schon als Kriminalitätsschwerpunkt eingestuft wurde, gibt es bereits ein spezielles Einsatzkonzept der Polizei. „Er unterliegt einer kontinuierlichen Analyse“, erklären die Polizisten am Hassel. Regelmäßige Streifen von Polizei und Ordnungsamt und Videoüberwachung sind weitere Maßnahmen für die Sicherheit am Hasselbachplatz.

Doch jedes Gefühl von Kriminalität oder Gewalt verfliegt, wenn man vor dem kleinen Erdbeerstand am Hassel steht. Unter einem der Bäume steht die überdimensionale Erdbeere, aus der der Verkäufer einen anlächelt. Fast zehn Euro für ein Kilo, Lokalität hat wohl seinen Preis. Sie steht noch nicht besonders lange da, vielleicht ein paar Wochen, doch der Hassel nagt jetzt schon an der Erdbeere. Die Blüten des Baumes, der danebensteht, sammeln sich auf dem grünen Dach. Auf der Tür   wurde bereits ein gelbes Graffiti-Tag platziert und an einzelnen Stellen blättert schon die rote Farbe ab. Darunter kommt rostiges Metall zum Vorschein. Es scheint nicht ihr erster Sommer am Hassel zu sein. Mit dem Spargelstand wenige Meter daneben, fühlt es sich auf dem Hassel fast an wie auf einem Wochenmarkt, zumindest einem sehr kleinen. Die Kunden könnten unterschiedlicher nicht sein, ein Potpourri der ganzen Stadt. Von Rollator-Omas bis hin zu McFit-Premium-Mitgliedern, die noch klitschnass aus dem Fitnessstudio kommen.

Natürlich auch am Erdbeerstand und immer wieder im Getümmel zusehen: Studenten. Also junge Erwachsene, jedoch sind die gefühlt zu 90 Prozent Studierende. Letztlich zu erkennen am beigen Jutebeutel oder am Kasten Sternburger. Viele von ihnen belächeln die Männer, die Tag für Tag am Hassel ihre Bierchen trinken. Doch der einzige Unterschied zwischen den beiden Gruppen ist, neben dem Alter, dass die Studenten ihren übermäßigen Alkoholkonsum mit dem Wort Studentenleben schmücken. Wer unter 25 perspektivlos ist, geht auch noch als Freigeist durch. Aber wie wäre der Hassel ohne die Studierenden? Wahrscheinlich immer so unscheinbar wie am Vormittag, zur Öffnungszeit des Erdbeerstandes. Die Altstadt rund um den Hasselbachplatz ist nahezu durch gentrifiziert. In den anliegenden Wohnungen, leben mehr WGs als Single Haushalte. Die Bars sind die komplette Woche gefüllt, egal ob Semesterferien oder Klausurenphase. Vor den Spätis sammeln sich Grüppchen, stocken ihren Sterni-Vorrat im Kiosk wieder auf und ziehen weiter. Sie hauchen dem Hassel Leben ein. Zumindest abends, vormittags sitzt man in Vorlesungen oder schläft vorzugweise noch.

Das ganze Gewusel am Hassel steht immer unter der Beobachtung der Männer auf den grünen Bänken, bei denen der Lack genauso abblättert wie der der Erdbeere. Alle in Begleitung eines 0,5l Pils. Sie reden ungerne, jedenfalls mit Fremden. Untereinander sind sie gesprächig, aber für Außenstehende oft unverständlich, akustisch sowie inhaltlich. Man nimmt ab und zu Gesprächsfetzen auf und je länger man lauscht desto mehr versteht man, als würde man eine neue Sprache lernen. Es wird viel gemeckert; Über Politik, „Ausländer“ oder jüngere Generationen. Doch neben dem ganzen Genörgel, klingen immer wieder vereinzelt Schicksalsschläge durch. Es geht um Scheidungen und den verlorenen Kontakt zu den eigenen Kindern, es geht um Schulden, die nicht in absehbarer Zeit gedeckt werden können, es geht um Perspektivlosigkeit.  „Das ist hier ist wie mein zu Hause“, sagt einer der Männer. Das neue zu Hause, weil es das alte nicht mehr gibt oder einen nicht willkommen heißt. Die meisten sind in Magdeburg geboren, aufgewachsen und hoffen auch bis an den Rest ihrer Tage hier zu leben.

Verständlich wirkt das Geschehen am Hassel für einen Normal, wenn man es nicht anders kennt.  Sie haben die Veränderungen, die die Stadt in den letzten 30 Jahren durchgemacht hat, hautnah am Hassel miterlebt. „Früher war es halt einfacher“, heißt es. Die gesellschaftlichen, als auch privaten, Veränderungen haben ihnen über die Jahre zugesetzt, niemand von ihnen hat geplant mit 53, um viertel vor zwei und einem Sterni in der Hand am Hasselbachplatz zu sitzen. Dennoch scheint keiner von ihnen unglücklich zu sein. Vielleicht weil sie ihre Vergangenheit immer nur kurz anreißen und schnell in einem großen Schluck Sterni ertränken. Es sind auch diese Geschichten und Personen, die eine Stadt zu der machen, die sie ist. Geschichten ohne erhoffte Wendung, ohne Glück im Unglück, ohne Happy End. Diese Geschichten gibt es auch in Magdeburg, auch am Hassel. Man will wegschauen; Aus Anstand, redet man sich ein, doch eigentlich versucht man nur das Leid zu ignorieren.

Der Hasselbachplatz ist ein Abbild Magdeburgs, junge, aufgeweckte Studenten leben neben zurückgelassenen, frustrierten Ostdeutschen. Auch hier am Hassel zeigt sich die Schattenseite der Stadt. Trotz dieser Späti-Romantik schwebt immer etwas Befremdliches mit, man wird nicht ohne Grund zum Kriminalitätsschwerpunkt. Die Ostdeutsche Armut spiegelt sich in den Auseinandersetzungen am Hassel wider, aber auch bei den Männern, die Tag für Tag ihr Bierchen am Hassel trinken. Vor allem Studierenden fällt es schwer einzusehen, dass das Leben nicht nur aus Flunkyball, Bier Pong und ab und zu Vorlesung besteht. Hier wo beides so nah zusammenlebt, kann man jedoch nicht immer wegschauen.

© Niklas Fritsch