Die einen möchten Spaß, die anderen ihre Ruhe.

Eine Reportage über den umstrittensten Ort der Stadt

„Lasst mich doch einfach mein Bier saufen“. Der angetrunkene Mann, vermutlich Ende 20, gestikuliert wild in Richtung der fünf Polizeiwagen. „Was wollt ihr denn immer hier?  Das ist öffentliches Gelände, ihr könnt uns hier nicht immer vertreiben. Wo sollen wir denn hin?“ Seine Fragen bleiben unbeantwortet. Die kürzlich eingetroffene Polizei ignoriert den lautstarken Mann und führt ihre Durchsagen weiter per Megaphon durch: Die Leute sollen doch bitte ihre Musik ausmachen, den Platz verlassen und nach Hause gehen. Ansonsten müsste der Platz geräumt werden. Doch die feiernde Meute hört nicht, bleibt weiter zusammen und genießt ihr Zusammenkommen mit alkoholischen Getränken und lauter Musik. Wie eine trotzige Schulklasse, die nicht auf ihren Lehrer hören möchte. Weitere Rufe aus der verteilten  Menge, die Cops mögen sich doch bitte verpissen, ignoriert auch die Polizei. Sie ignorieren sich gegenseitig, ohne den anderen wirklich ignorieren zu können.

Es ist schon spät, genauer 4:37 Uhr. Die Nacht ist fast vorbei und die ersten Sonnenstrahlen erhellen die Stadt. Dennoch tummeln sich weiterhin knapp hundert, überwiegend jüngere Menschen auf dem August-Bebel Platz in Halle (Saale). Die Leute sitzen in etlichen kleinen Gruppen, überall verteilt. Auf dem Kreisverkehr in der Mitte des Platzes, auf den Bänken der umliegenden geschlossenen Cafés, oder auf einer der vielen kleinen Grünflächen. Stehend, sitzend oder tanzend feiern sie das Leben, laut und ausgelassen. Aus einer der vielen Bluetooth Boxen ertönt Max Mutzkes Song “Catch me if you can“. Irgendwie passend, möchte die Polizei doch am liebsten alle einpacken und nach Hause fahren. Der gesamte Platz wirkt wie eine einzelne kleine Party-Blase inmitten der an sonst schlafenden Altstadt. Daran änderte auch das Eintreffen der Polizei erst einmal nichts. Die Leute feiern weiter, sitzen um die Wagen herum, als wäre nichts geschehen. Eine absurde Situation. Mit Ignoranz und Desinteresse versuchen sie die Polizeibeamt*innen zu provozieren.

Nach 20 Minuten Durchsagen schwindet die Geduld der Beamt*innen. Sie wenden sich nun  direkt den einzelnen Gruppen zu und erteilen klare Ansagen mit schärferem Ton. Etliche Wortgefechte und kleineren Auseinandersetzungen bestimmen nun das Geschehen. Doch eskalieren lassen möchte es niemand hier, die Präsenz der Polizei wirkt. Nach und nach verlassen immer mehr Menschen den Platz , wenn auch nicht ohne dumme Kommentare. „Bis zum nächsten Mal  ihr Pisser!“, brüllt der eingangs erwähnte Biertrinker in Richtung Polizei zum Abschluss. Er winkt noch kurz gehässig aus der Ferne, bevor ihn seine Freunde mit nach Hause zerren. Bis auf wenige Möchtegernrandalierer, die das Ende des Abends nicht wahrhaben wollen, ist der Platz nach einer Dreiviertelstunde so ruhig und leer wie der Rest der Altstadt.

Die Party ist vorbei, doch höchstwahrscheinlich geht sie in naher Zukunft weiter. Woche für Woche sind die lokalen Zeitungen mit Berichten über den August-Bebel-Platz gefüllt, über Stress und Ärger zwischen Besucher*innen, Polizei und Anwohner*innen. Der Platz inmitten der Altstadt von Halle gilt als das große Dilemma der Stadt. Er ist einer, wenn nicht der beliebteste Treffpunkt für junge Leute in den Abend- und Nachtstunden. Doch die vielen Feiern mit durchgehender Beschallung stoßen insbesondere bei den  Anwohner*innen auf wenig Gegenliebe. Es kommt in aller Regelmäßigkeit zu Konflikten. Sie beschweren sich insbesondere über Lärm und starke Beschmutzung ihres Zuhauses. „Viele Leute könne sich auch einfach nicht benehmen. Der Höhepunkt war letzten Sommer, als mehrere Personen in den Hauseingang gepinkelt haben.“, erinnert sich eine Anwohnerin. Auch Eskalationen mit Gewalt sind keine Seltenheit. Das nächtliche Eintreffen der Polizei wurde mittlerweile mehr Alltag als Sensation. Das Verhältnis zwischen den  Besucher*innen und der Polizei gilt als besonders angespannt. So tauchen immer wieder Anti-Polizei-Schmierereien und Graffitis auf, nachts wird gepöbelt und beleidigt. Auch heute ist noch ein großes „FCK CPS“ an einer Hauswand zwischen zwei Cafés zu lesen.

Es ist ein endloser Streit. Doch die Ignoranz, die Provokationen und die Suche nach der Konfrontation mit der Polizei waren vielmehr als eine Art Protest der Besucher*innen zu verstehen. Ein Protest gegen die ständige Verweisung des Platzes. Immer wieder hört man Menschen den Satz sagen, „Wo sollen wir denn hin?“. Der Frust der jungen Leute ist nicht zu überhören. Es ist ein Frust gegen die Polizei, aber insbesondere gegen die Stadt und die Politik, welche die Leute nur als „Problem“ sehen. „Wo sollen wir denn hin?“. Niemand scheint ihnen zuzuhören. Weder die Polizei, noch die Politiker*innen der Stadt. Und so hat sich eine Situation entwickelt, die für niemanden akzeptabel ist.

Sonntagmittag, knapp 8 Stunden später. Es riecht sehr komisch, nach einer undefinierbaren Mischung aus frischem Kaffee, Franzbrötchen und altem Urin. Die wilde letzte Nacht lässt sich nur durch den vielen Müll auf dem platt getretenen Grün erahnen. „So riecht das hier immer“, sagt Malte und lacht dabei. „In der Nacht wird groß gefeiert und am nächsten Tag  fühlt sich keiner für den Saustall verantwortlich“.

Doch trotz dem vielen Müll strahlt der Platz regelrecht. Einerseits wegen der vielen Sonne, vor allem aber aufgrund der vielen lachenden Menschen. Es ist ruhig und gleichzeitig dennoch so belebt. Friedlich tollen einige Familie umher und planschen in dem langen, begehbaren Wasserbecken. Auf den Bänken und Bürgerwegen quatscht und spielt ein buntgemischter Haufen aus jung und alt. Die kleine Verkehrsinsel auf der Mitte des Platzes wird nur von wenigen Autos umfahren und aus den umliegenden kleinen Cafés hört man fröhliches Menschengemurmel und Gelächter. Man spürt eine Heiterkeit, eine  gemeinsame Unbeschwertheit von freudestrahlenden Menschen aus den verschiedensten Milieus der Stadt.

„Das ist schon echt was Besonderes hier, so ein entspanntes Lebensgefühl hast du nirgendswo anders in der Stadt.“  Malte muss es wissen. Der 23 jährige Student wohnt schon seit knapp vier Jahren hier.

Er sitzt mit seiner Freundin im Café „Wolkenkuckucksheim“, direkt an dem Kreisverkehr, und genießt das schöne Wetter bei Kaffee und Brötchen.

Fast jeden Tag ist er auf dem Platz, um den „Bebel’schen Vibe zu erleben, wie er es nennt.

„Hier kannste noch sein wer du bist. Du findest echt immer jemanden zum Quatschen, sei es in einem der Cafés oder einfach auf dem Platz.“ merkt Malte leicht stolz an und nippt an seinen Kaffee.

Der Platz wirkt wie eine eigene kleine Welt, wo die Zeit stehenzubleiben scheint, inmitten dieser sonst so hektischen Stadt. Das wilde Gestrüpp, die kleinen Cafés, die vielen Graffitis an den Wänden. All das erscheint wie Dekoration einer Theaterkulisse, welche einen tollen, alternativen Sehnsuchtsort darstellen soll. Ein Ort zum Wohlfühlen.

Da wirkt es regelrecht absurd, dass die friedlich tollende Familie und der Pöbel von letzter Nacht sich an der gleichen Stelle nur um wenige Stunden verpasst haben. Ein Kontrast von Tag und Nacht, wie Tag und Nacht. Dieser Sehnsuchtsort, voller Frieden und Freiheit, mag so gar nicht mit dem leidigen nächtlichen Kampf  zwischen Besucher*innen, Anwohner*innen und der Polizei zusammenpassen. Und doch ist es der gleiche Platz.  Auch Maltes Freundin Isabell war letzte Nacht dabei: „Es ist echt verrückt, dass am Tag hier immer Friede Freude Eierkuchen herrscht, und es nachts nur Stress gibt. Sozusagen das Hallesche Paradoxon.“

Dabei ist der Konflikt um den „Bebel“  kein neuer. Schon seit Jahren kämpfen verschiedene Anwohneriniativen für strengere  Kontrollen und Maßnahmen seitens der Polizei und dem Ordnungsamt. “Die müssen hier einfach mal hart durchgreifen und die Leute von dem Platz vertreiben, die Leute hier wollen doch nur ihre Ruhe“, meint zum Beispiel Herbert, ein älterer Anwohner und zwei Tische weiter sitzend im Café. Doch für die nächtlichen jungen Besucher*innen ist der Platz einer der letzten öffentlichen Orte des sozialen Zusammenkommens in der Stadt. Auch Malte kennt den Konflikt sehr gut: „Das Problem ist die Alternativlosigkeit für uns jungen Leute. Zuerst waren alle in den umliegenden Parks, doch da wurde es zu gefährlich. Deshalb sind wir auf die Altstadt ausgewichen, da hier auch die meisten Studierenden wohnen. Doch nirgendswo durften wir wirklich bleiben. Der Bebel bleibt damit nur als einer der letzten Optionen um abends mal zusammenzukommen. Und solange die Stadt uns keine Alternativen aufzeigt, werden wir um ihn kämpfen“. Außerdem kritisiert er das teils unkontrollierte Vorgehen der Polizei gegen friedliche Treffen.

Der Konflikt hat es mittlerweile bis in die städtische Politik geschafft.  So war der „Bebel“  eines der führenden Themen bei der Wahl des Oberbürgermeisters im letzten Jahr. Doch ernste Lösungsvorschläge wie der Platz zur Ruhe kommen und was den jungen Leuten stattdessen geboten werden kann bleiben die Politiker*innen bis heute schuldig. Auch erste Annäherungen durch Bürger*innenversammlungen blieben bis heute erfolglos.

Es hat sich ein Problem entwickelt, das weitaus größer als die eigentliche Ruhestörung ist und bis auf die politische Ebene geschafft hat. Ein einfaches Vertreiben der jungen Leute kann keine Lösung sein. Ihnen müssen Möglichkeiten und Orte gegeben werden, sich frei und unbeschwert treffen zu können, auch mal etwas lauter. Solange es dafür keine Alternativen als den August-Bebel-Platz gibt, wird dieser weiterhin ein Brennpunkt für Konflikte bleiben, zum Leid der Anwohner*innen.

Auch Malte und Herbert tauschen sich mittlerweile in dem Café über das Thema aus. Sie verstehen die Argumente des anderen, wollen aber nicht von ihrer Position abweichen. Einen wirklichen Kompromiss, gar eine Lösung finden auch sie nicht. Doch in einem Punkt sind sie sich einig: Situationen wie letzte Nacht sind für niemanden zufriedenstellend.

© Jannik Marthe