Donnerstag Mittag.

Ein Ort, an dem die Menschen nur so dran vorbei rennen. Ein Ort, an dem die Menschen aneinander vorbei rennen. Wohin rennen sie? Woher kommen sie? Und warum steht da jemand? Direkt auf dem Hasselbachplatz steht eine ältere Dame. Sie hat blaue Haare. „Verrückt”, denke ich und gehe auf sie zu: „Ich wollte Ihnen nur sagen, dass Sie schöne Haare haben“. „Jaha, danke. Bis vor Kurzem hatte ich noch eine Dauerwelle. Dann kam die Chemo. Und seitdem trage ich meine Haare glatt, kurz. Und blau.“ Ich fühle mich direkt schlecht, weil ich sie auf ihre Haare, ihre tollen blauen Haare, angesprochen habe, womit ich anscheinend ein sehr sensibles Thema getroffen habe. „Ich färbe mir meine Haare immer selber mit einer blauen Spülung“, erzählt sie stolz. Mein Gefühl, dass ich eventuell ein doofes Thema angesprochen habe, legt sich.

© Lina Heide

Sie erzählt, dass sie gerade von einer Chemotherapie kommt und seit über einer Stunde auf ihr Taxi wartet. Die vom Taxi-Unternehmen hatten gesagt, dass sie nur zehn Minuten bis zu ihr ​brauchen. Ich bekomme den Eindruck, dass sie die Dame vergessen haben und möchte helfen: „Soll ich ein neues Taxi rufen?“ „Nene, die werden schon kommen.“ „Ok.“

Wir kommen ins Gespräch, und ich erfahre, dass sie 77 Jahre alt ist, eigentlich vor drei Jahren Brustkrebs überwunden hatte und jetzt seit Juni wieder in Therapie ist. „Hm”, denke ich, ​wie meine Oma. Erschreckend, wie sehr sich die Geschichten dieser beiden Damen ähneln. Meine Oma wäre heute 77 Jahre alt, wäre sie nicht vor sieben Jahren an Krebs gestorben. Auch meine Oma hatte bereits vorher Brustkrebs. Da war ich aber noch klein und verstand das alles nicht. Ich hab mir immer vorgestellt, da sitze ein echter Krebs in der Brust, den man da einfach rausholen müsse. Dann wäre alles wieder gut. Vor sieben Jahren, als der Krebs dann wieder kam, war ich 17 und wusste ganz genau, wie es um meine Oma stand. Ich habe ja alles mitbekommen. Nach der Diagnose Krebs zog sie bei uns ein. Damit sich jemand um sie kümmern konnte. Als ich klein war, hatte ich immer die Kinder beneidet, die im selben Haus wie ihre Großeltern lebten. Ich wollte auch immer einfach runter gehen können. Zu Oma und Opa. Deshalb hatte ich mich auch gefreut, dass Oma zu uns kam. Wenn auch unter diesen doofen Umständen. Erst hatte sie ein provisorisches Zimmer, dann ein eigenes. Am Anfang haben wir auch oft Spiele gespielt. Phase 10. Uno. Kniffel. Rummikub. Stadt-Land-Fluss. Wir waren auch alle nochmal zusammen ein paar Tage im Harz. In Radisleben. Das war schön. Nicht weit weg vom Harz stehe ich hier heute in einer Stadt, die ich zu Zeiten als meine Oma noch lebte nur mit Tokio Hotel verbunden habe. Und vor mir steht eine Dame, die hoffentlich diese Chemo überlebt. Das wünsche ich ihr. Sie wirkt so stark und so offenherzig. Eigentlich genau wie meine Oma. Heute, vor genau sieben Jahren, war ihre Beerdigung. Die Wochen vor ihrem Tod hatte ich mich eher zurückgehalten. War wenig bei ihr. Ich konnte es einfach nicht. Hielt es nicht aus. Doch am Abend ihres Todes, da war ich da. Hielt ihre Hand. Beobachtete ihr Herz. Das. Man. Durch ihren. Dünn. Gewordenen. Brust. Korb. Schlagen sah. Es schlug. Un. Regel. Mäßig. Bis es schließlich aufhö

Seitdem ist so viel passiert. So viel, was mich letztendlich heute hier an diesen Ort gebracht hat. Dieser Ort, an dem die Leute aneinander vorbei rennen. An einer Dame vorbei rennen, die eigentlich ja auch nur hier weg möchte. Nach Seehausen. Sie kommt gar nicht aus Magdeburg. Eigentlich verbindet sie auch gar nichts mit dem Hasselbachplatz. Sie steht da, wo sie ihr Taxi abholen wollte. Vor über einer Stunde. „Man könnte mich irgendwo in Magdeburg aussetzen, ich würde nicht nach Hause finden“, sagt sie und lächelt. Ein goldener Zahn blitzt aus ihrem Mund. Sie hat Hörgeräte, doch versteht mich sehr gut. Sie ist so alt wie meine Oma jetzt wäre, aber sie steht hier. Das Gefühl, ihr irgendwie helfen zu wollen, bleibt, auch wenn sie eine Ausdauer ausstrahlt. Ich meine,

wenn sie schon über eine Stunde auf ihr Taxi wartet, dann wird sie es auch schaffen, noch weiter zu warten. „Ich wünsche Ihnen alles Gute“, verabschiede ich mich. Ich laufe die Sternstraße entlang. Weg vom Hasselbachplatz. Mit langsamen Schritten entferne ich mich von der wartenden Dame, auch wenn es mir schwerfällt, mich nicht um ein neues Taxi zu kümmern. Warum? Liegt es daran, dass sie eine ältere Dame ist? Oder, dass sie schon so lange wartet? Oder, dass sie Krebs hat? Oder, dass ich meiner Oma nicht mehr helfen kann? Vermutlich alles gleichzeitig. Meiner Oma hätte ich auch gerne geholfen. Ich wusste zwar, dass man Krebs nicht „weghelfen“ kann, aber irgendetwas wollte ich tun. Also tat ich das, was ich konnte. Einkäufe tragen. Etwas zusammen spielen. Spazieren gehen. Zuhören. Und vor allem die gemeinsame Zeit genießen. Ständig Trauern bringt halt auch nichts. Das hätte meine Oma auch nicht gewollt. Sie hat ihren speziellen, etwas ernsthaften, trockenen Humor bis zum Schluss nicht verloren. Und sich ihre Unabhängigkeit nicht nehmen lassen. So, wie ich mir die Lebensfreude in dieser schweren Zeit nicht nehmen lassen wollte. Zuhause habe ich meiner Wut und Trauer wenig Raum gegeben. Dafür aber umso mehr in der Schule. Meine Freund*innen haben das alles mitbekommen und waren für mich da. Ich bin ihnen bis heute dankbar. Auch wenn ich mit den meisten gar nichts mehr zu tun habe. Diese Zeit ist eigentlich so weit weg. Ab und zu denke ich daran zurück, aber eher an Tagen, an denen die ganze Familie zusammenkommt. An Weihnachten. An Geburtstagen. Oder, wenn ich nach langer Zeit wieder in meine Heimat nach Ostwestfalen fahre. Von Magdeburg nach Bielefeld. Über die A2. Direkt da, an der A2, hat meine Oma gewohnt. Genau dann denke ich normalerweise an sie. Und jetzt. Irgendwie schon krass, wie präsent Erinnerungen an Zeiten und Menschen werden durch so eine kurze Begegnung in Magdeburg.

Ich biege in eine Seitenstraße ein, weiß nicht wohin ich gehen soll. Was, wenn die Dame immer noch da steht? Und das Taxi vielleicht gar nicht mehr kommt? Meine Gedanken treiben mich zurück zum Hassel. Ich gehe da jetzt hin und schaue nach. Falls das Taxi immer noch nicht da ist, rufe ich ein neues. Das kann ja wohl nicht angehen, lassen diese ältere Dame da einfach so lange warten. Was wäre, wenn es regnen würde? Und sie sich erkältet? Also sowas geht doch einfach nicht…

Als ich in Wut-Gegen-Das-Taxi-Unternehmen-Gedanken versunken am Hasselbachplatz wieder ankomme, steht die Dame nicht mehr da. Ich sehe ein Taxi. Die blauen Haare leuchten in dem dunklen Auto. Sie winkt mir lächelnd zu. Ich winke zurück und gehe zu ihr. Sie macht die Beifahrertür auf: „Siehst du, da ist das Taxi doch!“ Ich lehne mich vor,

schaue die Taxifahrerin vorwurfsvoll an und sage: „Schön, da sind Sie ja!“ Ich freue mich, dass die Dame nun endlich nach Hause kann. Nach Seehausen, wo auch immer das sein mag. Ich verabschiede mich jetzt endgültig, schließe die Tür und gehe zufrieden weiter. Tja, nicht immer brauchen die Menschen meine Hilfe. Und das ist auch gut so. Ich bin ja selber so. Ich kann auch keine Hilfe annehmen, will alles selber schaffen.

Das habe ich wohl von meiner Oma.

Von Lina Heide