Leise, ein Wort das ich schon gar nicht mehr kenne. Aufgewachsen von Kindes an in einem kleinen Dorf mit viel Natur. Das Geräusch fahrender Autos ist weit entfernt. Nur ein sanftes Rauschen ist manchmal zu hören, wenn der Wind seine Richtung dreht. Früh am Morgen, gegen sechs Uhr, fangen die kleinen Spatzen in der Dachrinne neben meinem Schlafzimmerfenster an zu zwitschern. Jeden Tag werde ich davon geweckt. Aufstehen, anziehen, Zähne putzen, mit der Familie gemeinsam frühstücken, bis jeder für sich zur Arbeit geht. Ein ganz normaler Alltag, wie bei vielen Menschen. Wache ich heute in meinem Schlafzimmer auf, werde ich geweckt von einer nervigen Taube, die immer wieder dieselben Töne von sich gibt. Ein Blick aus dem Fenster, zeigt mir die Aussicht auf einen gepflasterten Parkplatz mit vielen Autos. In der Ferne ist die Schnellstraße, die Richtung Autobahn führt, deutlich und laut zu hören. Außer von den zwei Birkenbäumen, auf einem nahegelegenen Industriegelände, fehlt von grüner Natur jede Spur. Schon immer wollte ich in der Stadt leben und aus meinem kleinen Heimatdorf hinauskommen.

Der älteste Stadtteil Magdeburgs

Zwei Jahre lebe ich inzwischen in Magdeburg, im südwestlichen Stadtteil Sudenburg. In meinem Umkreis hat Sudenburg, einen weniger guten Ruf. Auf den Straßen rennen viele Menschen mit den unterschiedlichsten Nationalitäten herum. Darunter auch einige die jeden Tag vor der Sparkasse, vor ihrer Stammkneipe oder vor einem Imbiss, Alkohol zu sich nehmen. Imbisse gibt es an jeder Ecke. Asiatisch, Indisch, Türkisch oder auch Arabisch. Es riecht immer nach Essen. Die Straßen sehen auf den ersten Blick heruntergekommen aus. Wenig Natur und die vereinzelten Grünflächen sind übersät von Unkraut und hohem Gras, das vertrocknet ist. Bei genauerem Hinsehen birgt der Stadtteil jedoch kleine, wunderschöne Orte und Geheimnisse. 1867 wurde das damals eigenständige Sudenburg mit Magdeburg vereint und ist einer der ältesten Stadtteile der Landeshauptstadt. Die Halberstädter Straße, kurz „Halber“, ist einer der längsten, nicht überdachten Einkaufsstraßen Magdeburgs. Von hier aus gelangt man zu Fuß, mit dem Fahrrad oder mit der Straßenbahn, überall hin. Das war allerdings nicht immer so. Durch kriegsbedingte Zerstörungen musste Sudenburg mehrmals wieder neu aufgebaut werden. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war der Stadtteil von Feldern, Wiesen und Siedlungen bedeckt. Das einzig noch heute erhaltene Haus, aus dem alten Sudenburg, ist das neue Rathaus in der Ackerstraße.

Mein erstes Jahr in Sudenburg war geprägt von Begeisterung für das Stadtleben. Das Gefühl von nie alleine und ständig umgeben von Menschen zu sein, gab mir neue Energie.  Dieses Jahr ist jedoch einiges anders. Ich begann die Suche nach etwas Neuem oder nach einem neuen Ort. Beziehungsweise suche ich überhaupt nach etwas Neuem? Gegenüber meiner Wohnung liegt die Klausener Straße, eine Straße, die ich jeden Tag normalerweise nur mit meinem blauen Opel Corsa durchquere. Ich schaute nie nach rechts oder links, immer nur geradeaus auf das was vor mir liegt. Umringt von Wohnhäusern und Villen mit Verzierungen an den Steinwänden, gehe ich die Klausener Straße entlang. Von Ornamenten bis Putten, jedes Haus ist künstlerisch auf seine eigene Art und Weise.

Geradewegs vor mir steht die riesengroße „Villa Wolf“ im neogotischen Stil, der an den kleinen stufenartigen Giebeln und den spitzbogigen Fenstern zu erkennen ist. Der Mittelpunkt ist der schmale empor ragende Turm mit seinem langen, spitzen, grauem Dach. Die Außenwände sind ringsherum mit roten und schwarzen Ziegelsteinen, musterartig verziert. 1886 wurde die Villa für den Bankdirektor Albert Marcks errichtet, die er an seine Erben weitergab und kurze Zeit später an den Gründer der „Maschinenfabrik R. Wolf“ in Magdeburg verkauft wurde. 1950 ging die Villa an die jüdische Gemeinde und wurde bis Ende der 60er Jahre als religiöses und kulturelles Zentrum genutzt. Bis zur Wende wurde das Haus allerdings von der SED-Bezirksleitung genutzt, um Abhöranlagen zu überwachen. Heute ist die Villa eines der eindrücklichstes Gebäude des Magdeburger Villenbestandes. Das Gefühl vor ihr zu stehen ist magisch und schaurig zugleich.

Die Straße weiter runter, stehen am Rand des Gehweges überall große, hohe, grüne Bäume, die im Wind rauschen. Auffällig ist die Stille. Nur das zwitschern der Vögel ist zu hören. Die Friedlichkeit und die Geschichte der Straße, scheint allerdings keiner der Fußgänger wirklich wahrzunehmen. Eine Frau auf der anderen Seite des Gehweges, geht mit einem Kinderwagen spazieren. Ihr Blick gilt einzig ihrem Handy in der Hand. Ein Mann, der geradewegs an mir vorbei geht, schaut auf den Boden, ohne sich umzusehen. Die anderen Fußgänger die mir auf meinem Weg begegnen, sind alle genauso beschäftigt. An der Abzweigung zur Lutherstraße angelangt, verändert sich die mit Teer bedeckte Straße zu Kopfsteinpflaster. Um mich herum, stehen weitere Altbauten und Villen, in denen Privatpraxen, Anwälte und Sicherheitsfirmen ihren Sitz haben. In der Mitte angelangt, wird die Straße zu einem großen runden Platz, wo parkende Autos am Rand des Gehweges stehen. Dort begegne ich einer älteren Dame. Ihr weiß-graues Haar schillert in der hellen Sonne. Sie trägt ein rosa T-Shirt mit roten Blumen darauf. Ihre blaue Jeanshose geht ihr bis knapp unter die Knie. In ihrer rechten Hand hält sie weiß-gelbe Margeriten. Sie steht wartend vor einem silber-grauem Tor, blickt auf ihre Blumen und dann nach oben in den Himmel. Ich gehe an ihr vorbei, sie lächelt freundlich und grüßt mich. Erstaunt darüber grüße ich zurück. Ihr Lächeln wird breiter und sie entgegnet mir, wie schön es ist, dass eine junge Dame zurück grüße, dass seie heutzutage selten. Die Situation erinnerte mich an mein Heimatdorf. Dort grüßt man jeden, auch wenn man ihn nicht kennt. So war es auch bei der alten Dame. Sie kommt nicht aus Magdeburg, aber ist jeden zweiten Donnerstag hier, um ihre Freundin aus alten Zeiten zu besuchen. Die Straße kennt sie in und auswendig. Oft geht sie spazieren mit ihrer Freundin, die nicht mehr gut zu Fuß ist, um sie zu unterstützen. „Die Straße ist wunderschön, auch wenn mir die Neubauten nicht so sehr gefallen, bin ich gerne hier.“ Ihre Freundin erzählt immer, dass zu DDR Zeiten vieles noch kaputt war, aber einige Häuser stehen bis heute. „Viele kuriose Gerüchte kursieren über diese Straße, dabei ist vieles schlichtweg erfunden. Dass die SED hier tätig war, ist kein Geheimnis, aber die Gerüchte, dass hier Überreste aus NS Zeiten von hochrangigen Propagandaministern und anderen Personen liegen, daran glaubt hier keiner. Über sowas wird auch nicht gesprochen. Diejenigen die hier noch leben, sind wie eine kleine Gemeinde. Hier geht es um Klatsch und Tratsch. Jeder kennt jeden, man grüßt sich wie auf dem Dorf und lästert auch mal über andere.“

Das Gespräch versetze mich sofort zurück in meine Heimat. Meine Suche begann damit, etwas Neues zu finden oder einen neuen Ort zu entdecken. Das Stadtleben kann einen manchmal begeistern, Freude schenken, aber auch überwältigen oder fremd vorkommen. Laute Geräusche, obwohl man die Stille gewohnt ist. Weniger Natur direkt in der Stadt. Ständig umgeben von Menschen. Doch schaut man genauer hin, ist selbst in der Stadt ein Stück Heimat wiederzufinden.

© Alina Brammer