Meistens berichten wir über Premieren am Theater Magdeburg. Die hier vorgestellte Inszenierung (Regie: Olivia Fuchs) feierte bereits am 13. Februar 2022, also vor knapp eineinhalb Jahren, Premiere im Magdeburger Opernhaus. Und dennoch lohnt sich ein Blick auf die Oper Grete Minde von Eugel Engel, die nun wieder im Programm des Theaters aufgenommen wird. Warum, darüber haben wir mit der Generalmusikdirektorin Anna Skryleva und der Chefdramaturgin Musiktheater, Ulrike Schröder, gesprochen.
Kurz und knackig: Worum geht es in der Oper?
US (Ulrike Schröder): Es geht um den Kampf eines Individuums gegen die sie umgebende Gesellschaft. Wir haben eine lebenslustige, auch widerspenstige Frau, die liebt und auch geliebt worden ist von ihrem verstorbenen Vater, und eine strenge kleinstädtische Gesellschaft – also ein ganz klassischer Konflikt – wobei diese Gesellschaft durchaus, gerade beim Autor Theodor Fontane, differenziert gestaltet ist.
Wir folgen der Geschichte des jungen Mädchens Grete Minde: Sie ist eine Außenseiterin, aber voller Lebenslust. Immer wieder stößt sie an Grenzen, bis sie mit ihrem Geliebten flieht, weil ihre Familie ihr keinen Halt bietet. Als er stirbt, muss sie wieder nach Hause zurückkehren. Dort trifft sie auf Ablehnung und wird um ihr Erbe betrogen, sodass sie immer mehr an den Rand gedrängt wird und keinen anderen Ausweg mehr weiß, als die Stadt anzuzünden, Suizid zu begehen, ihr Kind und das Kind ihres Halbbruders mit in den Tod zu nehmen und die Stadt Tangermünde zu zerstören.
Das geht auf einen tatsächlichen historischen Fall zurück, den Stadtbrand von Tangermünde 1617, für den eine Grete Minde zusammen mit zwei Männern zwei Jahre später verurteilt und hingerichtet wurde. Ein realer Kriminalfall, den Fontane im 19. Jahrhundert mit gewissen Änderungen aufbereitet hat und dessen sich Eugen Engel in seiner einzigen Oper angenommen hat.
Bei einem Besuch in Tangermünde ist mir aufgefallen, dass die Person Grete Minde auf Informationstafeln und der Darstellung in Büsten auf diesen Brand, auf Rache und Zerstörungswut reduziert wird. Fontane setzt dem ein anderes bzw. differenzierteres Bild entgegen …
US: Das ist super interessant. Bis ins 20. Jahrhundert hinein galt Grete Minde als der Inbegriff menschlicher Verworfenheit. Es wurde jedes Jahr von der Kanzel zum Stadtbrand gepredigt, gegen sie, nicht gegen ihre beiden Spießgesellen, wobei ihr Mann mindestens genauso schuldig war. Und das hat sich jetzt gewandelt. Jetzt ist Grete Minde nur noch die unschuldige Märtyrerin. Wahrscheinlich liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen. Wer die wirkliche Grete Minde war, ist ja nur noch sehr schwer zu rekonstruieren.
Eine Archivwissenschaftlerin hat die Originalakten letztes Jahr neu herausgeben. Daraus lässt sich beispielweise herauslesen, dass es interessierte Kreise in der Stadt gab, die sich da selbst herauszuhalten und die Schuld auf die Außenseiter:innen zu schieben versuchten, auf den Tonnies Meilahn, der dann seine Frau mit hineingezogen hat. Man erkennt aber auch, dass es nach damaligen Verhältnissen ein sehr gründliches Gerichtsverfahren gab. Im Vorfeld des Stadtbrandes tauchten Flugschriften auf, in denen gegen die Stadt gewettert wurde. Man hat vermutet, dass die Autor:innen dieser Fehdebriefe möglicherweise auch die Leute waren, die die Stadt angezündet haben, und man hat von allen Bürger:innen der Stadt Beispiele ihrer Handschriften eingeholt, um abzugleichen, ob das dieselbe Handschrift ist. Das ist auch alles noch in den Originalakten enthalten.
Aber – so geht es auch aus den Akten relativ eindeutig hervor – es gab mehrere Zeug:innenaussagen, die nahelegten, dass Grete Minde während des Stadtbrandes gar nicht in Tangermünde war. Es ist auch ersichtlich, dass es schon zuvor Rechtsstreitigkeiten gab. Grete Minde gehörte einer angesehenen Ratsfamilie an und sie hatte schon zuvor Ansprüche auf ein Erbe gestellt. Diese Akten sind allerdings verbrannt. Außerdem soll sie mehrmals geäußert haben, dass die Stadt sie um ihr Erbe brachte und deshalb wurde sicher nicht ganz zu Unrecht vermutet, dass sie einen Groll gegenüber der Stadt gehegt und den Brand möglicherweise angestiftet haben könnte.
Als Fontane seine Novelle schrieb, 1879, galt es noch als ausgemacht, dass Grete Minde die Stadt angezündet hatte.
Ein spannender Aspekt an der Figur Grete Minde ist auch die Frage, ob Frauen überhaupt zugestanden wird, Morde zu begehen, eine Stadt anzuzünden …
US: Das ist in der feministischen Wissenschaft ein spannendes Thema, auch ein emanzipatives Thema. Erst im 20. Jahrhundert wurden Frauen überhaupt als berechnende Mörderinnen verurteilt. Mann wollte sich nicht eingestehen, dass Frauen derartige Macht über andere (Männer) haben könnten. Das war extrem beängstigend für das Patriarchat.
Es gibt z.B. die berühmte Bremer Giftmischerin. Sie hat im Laufe ihres Lebens fünfzehn Menschen mit Rattengift getötet und es ist ihr lange niemand daraufgekommen – weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Ein solch radikales Verhalten bricht mit den Bildern, was Frauen dürfen. Und das ist hier, bei Grete Minde, ähnlich.
Was könnte Eugen Engel an der Geschichte von Grete Minde so fasziniert haben, dass er dieser seiner ersten und leider auch einzigen Oper widmete?
US: Offensichtlich geht es in der Oper um eine Außenseiterin und auch um die Mechanismen, wie man zur Außenseiterin gemacht wird. Da liegt der Bezug zum deutsch-jüdischen Komponisten Eugen Engel, der nach 1933 ausgegrenzt und schließlich ermordet wurde, nahe. Ich denke aber, man sollte mit solchen eindeutigen Parallelen vorsichtig sein. Engel schloss die Komposition vor 1933 ab, als er sich noch als Mitglied der deutschen Mehrheitsgesellschaft fühlen durfte.
Wichtiger für Engel ist meiner Meinung nach ein anderer Aspekt: Grete Minde ist einfach eine großartige Tochterfigur. Eugen Engel hatte ein sehr inniges Verhältnis zu seiner eigenen Tochter, Eva. In der Oper geht es um Liebe – und um den Mangel an Liebe: „Ich will Liebe“, das singt Grete Minde, ich will mich nicht verstecken, ich möchte nicht immer für meine Schwägerin das Kleinkind hüten, ich möchte leben und lieben. Und an einer Stelle sagt die Schwägerin dann: „Ich bin ohne Liebe“. Und Grete verkörpert alles, was ich erträume, was ich aber nicht haben kann. Durch diesen emotionalen Fokus kann man sich mit der Geschichte so gut identifizieren.
Das Opernhaus Magdeburg ist das erste Theater, dass Eugen Engels Oper auf die Bühne bringt. Wie seid ihr an die Partitur und an die Rechte für eine Uraufführung herangekommen?
AS (Anna Skryleva): Bevor ich als Generalmusikdirektorin am Theater Magdeburg startete, hatte ich ein Jahr, um meine Konzertprogramme zu planen und mit der damaligen Generalintendantin, Karen Stone, die nächsten drei Spielzeiten im Musiktheater vorzubereiten. Ein guter Freund von meinem Mann und mir, der ein leidenschaftlicher Sänger ist, brachte mir einen Klavierauszug von Eugen Engels Oper Grete Minde. Er meinte, dass dieses Stück vielleicht für Magdeburg interessant sein könnte.
Als ich den Klavierauszug bekommen habe, habe ich mich ans Klavier gesetzt, angefangen diese Musik zu spielen und die Sängerpartien durchzusingen. Je länger ich das Stück spielte, desto mehr begeisterte mich diese Musik! Ich konnte mir sofort ein großes, prächtiges Orchester vorstellen und bestimmte Sänger:innen, die ich kannte, u.a. Raffaela Lintl, die zu dem Zeitpunkt Solistin am Theater Magdeburg war, habe ich mir sofort als Grete Minde in der Hauptpartie vorstellen können.
Zu dem Klavierauszug gab es ein paar Informationsblätter über den Komponisten Eugen Engel und sein tragisches Schicksal. Eugen Engel, der hauptberuflich als Kaufmann arbeitete, komponierte eine große Oper. Ein Autodidakt! Ich wollte mehr über diese Person erfahren. Vor allem über seine künstlerischen Aktivitäten.
Und gerade in diesem Zeitraum suchten wir am Theater etwas besonderes, ein Stück – entweder eine Uraufführung oder eine Wiederentdeckung für die Spielzeit 2021/2022. Ich habe Karen Stone dieses Stück vorgestellt und sie war sofort von dem Stück begeistert. So beschlossen wir, die Familie in San Francisco zu kontaktieren, um mehr Informationen zu bekommen.
Wie seid ihr bei der Rekonstruktion der Partitur vorgegangen? Wie lange hat es in etwa von eurer ersten Sichtung des Materials bis zur Premiere gedauert? Das muss ein immenser Aufwand gewesen sein …
AS: Am Anfang hatten wir nur den Klavierauszug und wussten nicht, ob es eine Orchesterpartitur von der Oper gibt. Zum Glück gab es eine fertige Partitur. Aber es gab keine Orchesterstimmen davon. Denn jede:r Musiker:in im Orchester braucht eine eigene Musikstimme, um daraus zu spielen.
So haben wir uns entschieden, eine Firma zu engagieren, die die Noten professionell am Computer schreibt. Es hat insgesamt 2 Jahre gedauert, das Orchestermaterial zu erstellen. Das bedeutet, ich habe jede Orchesterstimme, die am Computer erstellt wurde, mit der Manuskriptpartitur vergleichen und auf Fehler prüfen müssen. Dann habe ich meine Korrekturen an den Notenschreiber weitergegeben. Und nachdem er mir die korrigierten Stimmen wieder geliefert hat, habe ich wieder jede Stimme geprüft und zum zweiten Mal Korrekturen gemacht. Es ist vergleichbar mit dem Erstellen eines großen Romans.
US: Das waren allein 40.000 Euro, das Orchestermaterial erstellen zu lassen. Generell haben wir sehr viel investiert. Und es hat sich gelohnt, die internationale Aufmerksamkeit war überwältigend: Vom Guardian bis zur Frankfurter Allgemeine Zeitung waren dann auch alle da.
Anders als bei Uraufführungen üblich, war Eugen Engel zum Zeitpunkt der Erstaufführung seiner Oper bereits tot. Er wurde 1943 in Sobibor ermordet. Welche Herausforderungen brachte der Umstand mit sich, die Uraufführung der Oper nicht in Zusammenarbeit mit dem Komponisten entwickeln zu können?
AS: Es war ein sehr emotionaler Prozess, dieses Werk auf die Beine zu stellen. Es ist üblich, wenn man eine Uraufführung vorbereitet, dass man sich mit dem Komponisten oder der Komponistin in einem permanenten und engen Austausch befindet. Hier, unter den bekannten Umständen, war es leider nicht möglich, dem Komponisten Fragen zu stellen. Und es gab viele Fragen. So musste ich die Verantwortung übernehmen, die künstlerischen und musikalischen Entscheidungen allein zu treffen, in der Hoffnung, dass sie im Sinne des verstorbenen Komponisten sind.
Dazu kam noch die Herausforderung, dass der Komponist ein Autodidakt war. Also, Eugen Engel war hauptberuflich ein Kaufmann, der wohl in einem aktiven Austausch mit der Berliner Musikszene war und selbst komponiert hat. Ob Eugen Engel einen Kompositionsunterricht bekam und bei wem, ist uns bis heute leider nicht bekannt. Deshalb finde ich es umso faszinierender, dass ein Autodidakt ein so komplexes Werk schreibt. Großes Orchester, Chor, Kinderchor, Bühnenmusik und viele Solist:innen.
Die Partitur und die Instrumentation sind sehr wuchtig und mehrschichtig. Man bekommt den Eindruck, dass Eugen Engel all seine Ideen und Visionen dadurch realisieren wollte.
Wie würdet ihr die Musik von Eugen Engel beschreiben? Wodurch zeichnet sie sich aus?
AS: Seine Oper hat stilistisch mehrere musikalische Einflüsse: Da ist viel von Richard Wagner dabei. Im 1. Akt kann man viele Parallelen zu Der Meistersinger von Nürnberg ziehen, es gibt auch einige Zitate daraus. Im 2. Akt gibt es Stellen, die man sofort mit dem Parsifal in Verbindung bringen kann. Und im 3. Akt höre ich viel aus dem Schluss der Götterdämmerung.
Gleichzeitig bringt mich die Mehrschichtigkeit der Instrumentation und der Partitur sofort zu Richard Strauss.
Zudem gibt es einige Momente, die eben im Zusammenhang mit Engelbert Humperdinck stehen.
Ich sage es so: Eugen Engel hat mit dieser Oper keine neue oder revolutionäre Musiksprache entwickelt. Aber er hat dieses Stück in der Tradition der deutschen Spätromantik komponiert.
Vor diesem Hintergrund stell ich mir den ganzen Arbeitsprozess, aber insbesondere die Uraufführung natürlich äußerst emotional vor …
US: Es war sehr bewegend, über die mehrjährige Vorbereitung mit der Familie Engels in Kontakt zu kommen. Seine Enkelin Janice Ann Agee und sein Enkel Claude Lowen – 75 und 85 Jahre alt – waren bei der Uraufführung auch anwesend.
2019 wurde für Eugen Engel und seine Tochter Eva in der Charlottenstraße in Berlin, wo sie zuletzt gelebt haben, Stolpersteine verlegt. Karen Stone und ich waren anwesend und lernten die Familie kennen. Die Nachfahren leben in Kalifornien, in der Nähe von San Francisco. Sie wollten alle zur Premiere anreisen. Die Pandemie hat das leider verhindert. Bei der Uraufführung waren nur die beiden Enkel:innen in Magdeburg. Aber jetzt zur Wiederaufnahme ist die ganze Familie gekommen.
Mir wurden während der Vorbereitungszeit sehr persönlichen Sachen anvertraut, z.B. Briefe. Darüber und über intensive Recherchen – wegen der Pandemie leider nur online – konnte ich viele biografische Details von Eugen Engel und seiner zwölf Geschwister herausfinden. Das waren zum Teil Dinge, die die Familie noch gar nicht wusste. Wir machen ja hier am Theater alle sechs Wochen eine neue Premiere. Wir beschäftigen uns alle drei Monate mit neuen Sachen. Dass man sich so lange Zeit mit einem Projekt beschäftigen kann, das ist schon eine einmalige Chance.
Gibt schon Anfragen von anderen Theatern, das Stück spielen zu wollen?
US: Also es gibt – und das finde ich schon einen riesigen Erfolg – einen Verlag, der sich interessiert. Wenn ein Haus kommt und sagt, wir würden die Oper gerne spielen, dann wäre es vielleicht möglich, das Werk in den Verlagskatalog zu übernehmen. Das wäre toll, weil Eugen Engel dann dauerhaft dem Vergessen entrissen wäre.
Wir haben im Mai eine CD mit einer Live-Aufnahme herausgebracht und machen jetzt die Wiederaufnahme, vielleicht interessiert sich dann jemand dafür. Bislang haben wir leider noch keine konkreten Anfragen.
Warum sollten es sich die Magdeburger:innen nicht entgehen lassen, eine Vorstellung zu besuchen?
AS: Mit diesem Opernwerk kann man viele wichtige Themen gleichzeitig ansprechen. Als Hauptthema steht die Gerechtigkeit im Mittelpunkt. Auch über die Rolle einer Frau in der Gesellschaft kann man dank dieses Stoffes gut diskutieren.
Ein wichtiges Thema ist der Holocaust. In dem tragischen Schicksal des Komponisten kann man stellvertretend für viele andere Holocaust-Opfer sprechen und insbesondere darüber, wie unsere Gesellschaft heute aussehen würde, wenn nicht so viele Künstler:innen, Wissenschaftler:innen und überhaupt führende Persönlichkeiten dem nationalsozialistischen Regime zum Opfer gefallen wären.
Mein Wunsch wäre es, dass dieses Werk von anderen Opernhäusern gespielt wird und sich fest im Opernrepertoire etabliert. Es ist wundervolle Musik und eine fantastische Geschichte, die viele Probleme in unserer Gesellschaft anspricht.
US: Es ist eine großartige Frauenfigur! Und Musik, die neu ist in einem ganz besonderen Sinn: Es ist eine spätromantische Musik, eine vertraute Musiksprache. Und doch kennt man diese Komposition noch nicht. Man hört etwas Neues, aber etwas, das vertraut klingt. Hier kann man von Anfang an gut einsteigen. Und alles, was man in der Oper braucht, ist enthalten und das Ganze dauert nicht länger als zweieinhalb Stunden (inkl. Pause).
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Wir danken Anna Skryleva und Ulrike Schröder für das spannende Interview. Eugen Engels Oper Grete Minde wird in dieser Spielzeit noch dreimal gezeigt: Am Sonntag, den 29. Oktober um 16.00 Uhr, am Samstag, den 25. November um 19.30 Uhr und am Sonntag, den 17. Dezember um 18.00 Uhr. Weitere Informationen zum Programm und Tickets gibt es auf der Website des Theater Magdeburg.
#hauptsachewirsindzusammen: Für die Vorstellung am 17. Dezember verlosen wir auf unserem Blog in Kooperation mit dem Theater Magdeburg 1 x 2 Freikarten. Mitmachen könnt ihr auf unserer Gewinnspiel-Seite. Toi, toi, toi!
Text: Tobias Bachmann
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