Zeit. Am Hasselbachplatz ist sie oft knapp, flüchtig oder noch lang nicht ausreichend. Sie fließt durch die Straßen, die Häuser, die Bars, Restaurants und Geschäfte und jeder Mensch dort braucht sie dringender als die anderen. Ein Moment vergeht zu schnell, ein anderer nicht schnell genug. Einer will länger verweilen, eine andere will so schnell wie möglich weiter. Sie alle brauchen Zeit. Dabei ballt sich eine große Menge Zeit gar nicht weit entfernt. Am Ende eines langen Armes des Hasselbachplatzes, der sich sehnsüchtig gen Elbe streckt, erblickt man es noch bevor der Fluss selbst in Sicht kommt: Ein Kunstwerk geballter Zeit.

Achtzehn Uhren ruhen in einer Kugel, ihre Zifferblätter nach außen gerichtet. Gleichmäßig sind sie auf der Oberfläche verteilt, in regelmäßigen Abständen auf unterschiedlichen Höhen. Auf der Kugel, vier Meter über dem gepflasterten Weg, sitzt ein Mann. Seine Farbe gleicht der der Kugel. Er hält sich eine neunzehnte Uhr vor sein Gesicht, als wäre deren Rückseite viel interessanter als die Zeit oder der sich immer wandelnde Fluss direkt vor ihm. Oder, als wollte er sich verstecken.

© Felix Bergemann

Ich gehe gerade um die Kugel und die darauf sitzende Plastik eines Mannes herum und betrachte jede Uhr einzeln. Sie sind mit Namen verschiedener Flüsse der ganzen Welt beschriftet und sollen die jeweilige Zeit vor Ort zeigen. Manche halten sich an diese Regel, andere sind eigenwilliger – Zeit zeigen sie alle.

Der Sekundenzeiger der Uhr mit der Aufschrift „RIO NEGRO“ zum Beispiel springt manchmal eine, oder mehr Sekunden zurück und verursacht dadurch kleine Zeitreisen. Diese bieten den Menschen vor Ort zwar nicht die Möglichkeit, größere Fehler zu beheben, aber kleine Unglücke, wie ein zu schnell gesprochenes, böses Wort oder ein falscher Schritt auf einer wackeligen Leiter könnten so zumindest zurückgenommen werden.

“Na, stimmen alle?”, ruft mir ein Mann zu, der aus Flussrichtung auf mich zugelaufen kommt.
“Die hier dreht ein bisschen durch”, antworte ich und deute auf eine besonders verhaltensauffällige Uhr. Sie trägt die Aufschrift “JANGTSEKIANG”.
Ihr Minutenzeiger rast über das Zifferblatt, vollendet eine Stunde in wenigen Sekunden, der Stundenzeiger folgt gehorsam und die beiden kreisen wild und ruckartig um ihren gemeinsamen Ankerpunkt. Der Sekundenzeiger spielt sein eigenes Spiel, er scheint das Zeitgefühl verloren zu haben und will wohl die richtige Sekunde erraten. So springt er eine Sekunde vor, fünf zurück, zwanzig vor, sieben zurück, zwei zurück, eine vor. Am Jangtsekiang, dem längsten Fluss Chinas, ist die Zeit ein reißender Strom.

Der Mann ist bei mir angekommen und stellt sich vor. Er ist Sebastian Anastasow, Diplom-Restaurator. Er hat ein freundliches Gesicht, wache Augen, trägt Bart und eine Kurzhaarfrisur. “Das ist alles Plastik”, sagt er und streicht mit der Hand über die Oberfläche der Kugel. Sie ist uneben. Überall sind kleine Erhebungen und Muster. Als wäre die Kugel einst glatt und makellos gewesen, doch dann hätten sich Poren geöffnet, sie hätte zu schmelzen begonnen und wäre im Schmelzprozess erstarrt. Anastasow erzählt mir, dass er das Kunstwerk damals zusammen mit der deutsch-französischen Künstlerin Gloria Friedmann gebaut hat. Es heißt “Zeitzähler” und ist eine Plastik, die im Rahmen des Kunstprojekts “Die Elbe [in] between” in den Jahren 2007 und 2008 entstand.

Damals standen die luxuriösen, umliegenden Wohnhäuser noch nicht, das Café nebenan war noch nicht gebaut. “Zeitzähler” war ein verheißungsvolles Versprechen einer rosigen Zukunft füreinen neu entstehenden Teil der Stadt. Heute blitzen die verglasten Balkons der Neubau-Apartments im Sonnenlicht und Passanten schlendern vorbei, während der Mann auf der Kugel noch immer die Uhr der Elbe von hinten betrachtet, während der Fluss selbst nur wenige Meter vor ihm vorbeizieht.

Gloria Friedmann wollte ursprünglich eigentlich keine Sekundenzeiger in den Uhren haben und es war ihr auch nicht wichtig, dass die Uhren im Nachhinein repariert und wieder richtig eingestellt würden, verrät mir der Restaurator. Hätte Anastasow letzteres über die Jahre hinweg allerdings nicht immer wieder getan, dann würde jetzt vermutlich jede einzelne Uhr stillstehen, denke ich mir. Sebastian Anastasow war nämlich nicht nur beim Entstehungsprozess von “Zeitzähler” dabei, er ist auch derjenige, der die Plastik und die Uhren über die Jahre hinweg im Auge behalten und wieder repariert hat, mit Hilfe des Kunstmuseums, das die Verantwortung für die Plastik am Elbufer trägt.

Von weitem sieht die Kugel grau aus, mit braunen Flecken an manchen Stellen. Als wäre sie aus Metall statt Plastik und hätte zu rosten angefangen. Aus der Nähe betrachtet sieht sie ebenfalls grau aus, doch hier erkennt man darüber hinaus die vielen blauen Schlieren, die die Oberfläche überziehen wie ein Film. Als wäre ein blauer Regenschauer über diesen besonderen Platz am Fluss hinweggezogen und die farbigen Tropfen hätten auf Kugel und Person dauerhaft ihre Spuren hinterlassen. Und zwischen den Schlieren, kupferfarbene Flecken. Die Kugel und der Mann auf ihr teilen sich die gleiche Farbe, was ihn jedoch hervorhebt, ist sein Glanz. Während die Kugel matt ist und nicht aktiv auf Sonnenlicht reagiert, reflektiert der Mann es fast so sehr, wie die Gläser der Uhren, als wäre er noch immer nass vom Regen.

“Zeitzähler” wurde in der Vergangenheit bereits öfter mutwillig beschädigt. Mal wurden die Gläser der Uhren eingeschlagen, zuletzt wurden dem Mann auf der Kugel die Handgelenke gesprengt und die Elbe-Uhr, an der seine Hände noch immer hingen, musste zwischen seine Beine gelegt werden. Er selbst starrte ins Leere. “Da habe ich dann die Arme verstärkt. Letztens mussten wir auch Belüftungslöcher bohren, früher war das alles hermetisch dicht. Aber hier…”, Anastasow deutet auf die Uhr mit der Aufschrift “DONAU”. Sie scheint die richtige Zeit zu zeigen. “Hier ist ‘ne Fliege drin und Kondenswasser am Glas. Das sollte eigentlich nicht so sein.”

Achtzehn Uhren, die Tag und Nacht Wind und Wetter, Sonne und Eis ausgesetzt sind mit begrenzten Ressourcen durchgehend am Laufen zu halten, ist keine leichte Aufgabe. Wie sie alle auf die richtige Zeitzone eingestellt wurden, erklärt mir der Restaurator so: “Das sind ja alles Funkuhren, die richten sich nach deutscher Zeit. Und wir habens dann einfach mal probiert und die Zeiger so verschoben, dass es eben passt.”, sagt er und spielt mit den Händen eine Drehbewegung nach. Jede Uhr erhält also per Funk die richtige, deutsche Zeit, ihre Zeiger sind aber so gedreht worden, dass sie zur Ortszeit und Zeitzone ihres Flusses passen. Oder einmal gepasst haben.

Der Künstlerin war es nicht wichtig, dass alle Uhren richtig gehen, denn wild durchdrehende Uhren geben viel bessere Denkanstöße als ordinäre Zeitanzeiger, denke ich mir. Während die Zeit am Mississippi und am Mekong so rasend schnell dahinfließt wie am Jangtsekiang, stehen die Zeiger an der Loire, der Wolga und dem Murray River still. In China, Südostasien und dem US-Bundesstaat Mississippi also vergehen Tage und Wochen, ohne dass auch nur einmal Langeweile aufkommt, während in Frankreich, Russland und Australien alles erstarrt wirkt. Als würde das Wasserrad der Zeit sich nicht mehr drehen oder als wäre die Zeit selbst eingefroren.

Am Amazonas ist Zeit ein Glücksspiel. Der Sekundenzeiger springt über das gesamte Zifferblatt und wedelt hin und her wie die Nadel eines Kompasses, den man in der Hand dreht. Und doch scheinen sich die anderen beiden Zeiger nicht sehr beirren zu lassen, geht die Uhr doch nur etwa sieben Minuten vor – oder 53 Minuten nach der regulären Zeit. Wenn die Zeit auch an manchen Orten eigenwillig ist, so geht sie doch an vielen Orten so, wie man es von ihr erwartet. An der Themse, dem Nil und der Elbe zum Beispiel. Am Hasselbachplatz scheint sie allerdings besonders eigenwillig zu sein, wo dort doch so viele Menschen um ihre Aufmerksamkeit buhlen.

Umso wichtiger, dass es nicht weit entfernt einen Ort gibt, an dem man die eigene Zeit wieder geraderücken kann. Wo man sich an den Zeigern einer erstarrten Uhr festhält und ihren Stillstand nutzt, um sich in der Gegenwart zu verankern. Wo Kunst das Hier und Jetzt ausfüllt und man für den Moment das Drängen der eigenen Zeit vergisst.

Von Felix Bergemann

© Felix Bergemann