Der Hasselbachplatz – zu jeder Tageszeit ein Ort voller Menschen. Geht die Sonne unter, erwacht dort das Nachtleben. Die Sonne geht auf, das geschäftige Treiben beginnt. Viele Füße bewegen sich zielgerichtet auf verschiedenen Wegen. Aneinander vorbei, nebeneinander her, auf einer Stelle. Aber immer in Bewegung. Kleine Füße stiefeln von den Bahnhaltestellen zu umliegenden Schulen. Große Füße bewegen sich hinein in die Geschäfte und Restaurants oder übertreten langsam die Schwellen der Arztpraxen und Apotheken. Mit den eigenen Gedanken ganz woanders, nehmen viele von ihnen eine weitere Lebensform des Platzes überhaupt nicht wahr. Die Taube.
© Celine Rebling
Leicht zu erkennen an ihrem Federkleid aus verschiedenen Grautönen und den damit in Kontrast stehenden roten bis fast schon pinken Beinchen, gehört die „Hassel-Taube“ zur Gattung der Stadttauben. Vor vielen Jahren wurden die ehemaligen Felsentauben von den Menschen soweit gezüchtet, dass ein ganzjähriges Brüten möglich war. Für den bestmöglichen Profit wurden sie in die Städte gebracht, wo sie sich rasant vermehrten. Heute verbinden viele Menschen mehr negative als positive Gedanken mit dem gefiederten Bürger der Innenstädte. Kot. Dreck. Krankheiten. Den in kleinen Gruppen über den Hasselbachplatz stolzierenden Tieren eilt das Vorurteil des Gesundheitsgefährders voraus. Dabei sind sie entgegen der Behauptungen nicht ansteckender als andere Zier- und Wildvögel. Als größere Krankheitsüberträger zählen sogar die geliebten Tiere Zuhause. Eine Studie zur Gefährdeneinstufung von Stadttauben stellt klar, dass viele Behauptungen darüber zudem als falsch oder wenigstens maßlos übertrieben entlarvt werden können. In den Köpfen der Bevölkerung hat sich über die Jahre allerdings ein Bild gefestigt, welches sich nur schwer überschreiben lässt.
Auf ihrem Weg um den Kreisel herum, werden die Hassel-Tauben verächtlich von vorbeigehenden Menschen gemustert. Den Sicherheitsabstand stets beibehaltend. Von kalter Dezemberluft umhüllt, fällt eine der Hassel-Tauben besonders aus dem Bild. Gemächlicher als alle anderen bewegt sie sich von einem Pflasterstein zum Nächsten. Immer wieder verschwindet der kleine Schnabel mit dem weißen Höcker oben drauf zwischen den Ritzen. Schaut sie hoch, ist der Schnabel meist leer. Mehrere Minuten verbringt sie vergeblich mit der Suche nach Futter. Der Kopf geht runter. Der Schnabel bleibt leer.
Nicht ohne Grund wiegen Tauben in Innenstädten durchschnittlich weniger als ihre Artgenossen in Vororten oder Randgebieten. Auch ihre Nahrungsgrundlage trägt nicht zu einem gesunden und langem Leben bei. Der Abfall der Menschen bietet den Stadttauben nur selten die benötigten Nährstoffe. Eine Mangelernährung ist so kaum vermeidbar. Folglich leben städtische Tauben nur etwa zwei bis drei Jahre, wobei sie unter optimalen Bedingungen sogar bis zu zehn Lebensjahre erreichen könnten. Und in dieser verkürzten Zeit müssen sie ein „erbärmliches Leben fristen“, wie Nadine Waltschyk, die Referentin Campaigning beim Deutschen Tierschutzbund, es beschreibt.
Als sich die gemütlich voran schreitende Hassel-Taube mit dem naheliegendem Mülleimer zwischen den Bänken am Rande des Kreisels nähert, fällt ihr neugieriger Blick auf einige Brotkrümel. Aus rot-orangenen Augen heraus mustert sie ihre nächste Mahlzeit zu Füßen des grauen Eimers. Die Bewegungen des grau-gefiederten Hasselbewohners werden schneller. Fast so, als könne er es kaum abwarten mit den Krumen seinen Magen zu füllen. Losgelöst von der kleinen Gruppe, bewegt sich die Taube leicht unbeholfen darauf zu. Sie hinkt. Auf zwei Beinen, aber mit nur einem Fuß arbeitet sie sich weiter. Den freudigen Blick stets beibehalten, stellt sie auf ihrem Weg den rechten Fuß vor das linke Bein. Das linke Bein vor den rechten Fuß. Verletzungen wie diese werden mit den Jahren immer häufiger. Viele menschliche Bürger fühlen sich von den Stadttauben regelrecht belästigt und sehen sie als potenzielle Bautenschädlinge. Der Grund: Der säurehaltige Kot der Tauben beschleunigt die Verwitterung von Gebäuden, Denkmälern und Statuen. Historische Fassaden, Balkone und Flachdächer sind davon am stärksten betroffen, da sie als Anflugziele besonders beliebt sind. Um dem Zersetzungsprozess entgegenzusteuern wenden die Menschen diverse Schutzmaßnahmen an. Die wohl bekannteste Maßnahme sind „Spikes“. Die grauen Edelstahlspitzen, die senkrecht zum Boden beispielsweise auf Schriftzeichen über Geschäftseingängen platziert werden. Auch durch Netze, Spanndrähte und sogar elektronische Impulsstromsysteme sollen die Tauben abgeschreckt werden. Einige Menschen gehen allerdings noch weiter und verüben illegale Tötungsaktionen. „Immer wieder erreichen uns schockierende Meldungen von Tierhassern, die Stadttauben vergiften, anzünden, abschießen, mit Öl beschmieren oder anderweitig quälen und töten“, erzählt Waltschyk. „Das macht fassungslos und traurig. Tauben verdienen einen respektvollen Umgang wie jedes andere Lebewesen auch.“
Die missliche Lage der Stadttauben Magdeburgs und so auch die der Hassel-Taube könnte allerdings schon bald ein Zustand der Vergangenheit sein. Aktuell stellt die Tierschutzpartei einen Antrag zur Errichtung einer betreuten Taubenstation. Diese sollen den Stadttauben im Prinzip die Möglichkeit auf ein Betreutes Wohnen bieten. Obdachlose Stadttauben erhielten damit einen sicheren Rast- und Brutplatz. Auch für eine ausreichende und ausgewogene Futterversorgung sei dort gesorgt, um Mangelernährung und Machtkämpfen untereinander vorzubeugen. Außerdem sei in bereits betriebenen Taubenhäusern unter anderem in Stuttgart und Erlangen erkannt worden, dass die Tiere dort weniger von Parasiten befallen sind als unter natürlichen Großstadtbedingungen. Vorteile haben die Stationen also nicht nur für Tauben, sondern auch für die menschlichen Gemüter. Darunter, dass die bis zu zwölf Kilogramm Kot pro Taube im Jahr nicht mehr auf historischen Gebäuden landen würden. Stattdessen werde dieser zum Großteil in den Stationen hinterlassen und dort gezielt entfernt. Auch die Population der Stadttauben könne dort tierfreundlich reduziert werden. Gelegte Eier würden dort gegen Plastik- oder Gipseier ausgetauscht werden. Der Nachwuchs reduziert sich. Und die bisherigen Hassel-Tauben erhielten die Chance auf ein gesünderes und glücklicheres Leben. Ob und wann genau dem Antrag durch den Magdeburger Stadtrat allerdings stattgegeben wird, ist noch unklar. Am 14. November wurde dieser vorerst vertagt.
Gerade bei den Krumen angekommen, bemerkt auch eine andere Hassel-Taube aus der Gruppe den Fund der Einbeinigen. Den Kopf leicht zur Seite geneigt. Der Blick starr auf das gefundene Futter gerichtet. Langsam und ganz vorsichtig verringert sie die Distanz. Nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt, nimmt auch die einbeinige Taube sie war. Doch statt die Zweite zu verscheuchen und die Krumen für sich selbst zu beanspruchen, wirkt es, als würde sie zu einem gemeinsamen Mahl einladen. Als wüsste sie, dass sie nicht mehr lange hungern muss. Die zweite Hassel-Taube nimmt das Wohlwollen der Einbeinigen wahr und schließt die Lücke. Nebeneinander speisen die beiden Tauben vergnügt vor sich hin. Die Köpfe gehen runter. Die Schnäbel sind voll. Ungestört vom Trubel, der sie umgibt, sind auch die letzten Krümel schnell verputzt. Die Hassel-Tauben schauen auf. Schauen sich um. Und begeben sich schließlich wieder zurück zu ihrer Gruppe. Dorthin, wo große und kleine und noch kleinere Füße das Leben des Hasselbachplatzes formen.
Von Celine Rebling
© Celine Rebling
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