Vorsichtig streicht Malin Schildhauer über den Tüllrock, der um ihre Beine fließt. Sie dreht sich vor dem Spiegel nach rechts und links, betrachtet das Kleid aus allen Perspektiven. Auf Höhe ihrer Taille geht der Rock in ein Oberteil mit feiner Spitze über. Darüber liegt eine weitere Schicht Tüll, die dem Kleid etwas Leichtes, Feenhaftes verleiht. „Was sagt dir dein Herz?“, fragt Carola Ackermann. Immer wieder dieselbe Frage: Würde Malins Herz bei diesem Kleid etwas höher schlagen?
Malin fährt mit den Fingern über die Spitze entlang des V-Ausschnitts. Dieser wiederholt sich am Rücken. Die schmalen Träger legen ihre Tattoos am rechten Arm und auf dem rechten Schulterblatt frei. Auf Bauchhöhe des Kleides kreuzen sich zwei schmale Satinbänder, die am Rücken zu einer kleinen Schleife zusammengebunden werden. Ein verspieltes Detail. Würde Malin ihrem Matthias in diesem Kleid im nächsten Jahr das Ja-Wort geben?
Malin ist gemeinsam mit ihrer Schwester Mara aus Wolfenbüttel nach Magdeburg gekommen, um in Carolas Atelier „Fräulein Liebe“ das Kleid für ihren großen Tag zu finden. Wie genau das eigene Brautkleid aussehen soll, wisse sie noch nicht. Die Designerin zeigt ihr deshalb zu Beginn der Anprobe einige Röcke, Spitzen und Ausschnitte, um ein Gefühl für den Geschmack ihrer Kundin zu bekommen.
Bräute, die von einem pompösen Prinzessinenkleid träumen, werden von Carolas Kleiderauswahl enttäuscht sein. „Die Braut, die hierherkommt, will etwas Leichtes und findet Vintage oder Boho toll“, sagt Carola. Etwa 50 Kleider in diesem Stil hängen in ihrem Atelier. Einige davon sind aus ihrer eigenen Kollektion, andere von ausgewählten Designern. Für Bräute, die sich etwas Einzigartiges wünschen, fertigt Carola Kleider nach Maß an. Brautkleider, die in ihrer Werkstatt entstehen, hätten alle eine Gemeinsamkeit. „Sie haben ein Alleinstellungsmerkmal, zum Beispiel eine besondere Farbe oder Spitze“, erklärt die Designerin. Das spiegele ihre eigene Persönlichkeit wider, denn auch sie sei schon immer aus dem Rahmen getanzt. „Ich bin auf jeden Fall eine Traumtänzerin.“
Nach Malins Vorlieben nimmt Carola nun hier und da ein Modell von den Kleiderstangen und stellt eine kleine Auswahl für die Anprobe zusammen. Dann verschwindet sie mit der zukünftigen Braut in den hinteren Bereich des Ateliers, wo sich die Umkleide befindet. Mara bleibt erwartungsvoll zurück.
Sie hat es sich auf einem der Vintage-Stühle mit rosafarbenem, geblümtem Cord-Bezug bequem gemacht. Die Stühle stehen auf der rechten Seite des Ateliers. Der Raum wird von einer aufwendigen Stuckdecke überspannt, an der Wand lehnt ein großer Spiegel. Von den Fenstern aus kann man einen Teil des Hasselbachplatzes überblicken. Dieser wirkt im Vergleich zum Atelier wie eine andere Welt. Hier klingeln Straßenbahnen und drängeln Autos, auf den Gehwegen und an den Tram-Haltestellen herrscht geschäftiges Treiben. Nur vier Stockwerke höher scheinen der Lärm und der Trubel weit entfernt. Zu hören ist nur Carolas leise Musik.
Endlich kommt Malin aus der Umkleide zurück. Sie lässt den Tüllrock des ersten Kleides auf den Boden sinken und blickt in den Spiegel. Für einen Moment ist es still. Ein Gefühlsausbruch, wie man ihn aus Film und Fernsehen kennt, bleibt aus. „Ich verstehe nicht, warum alle weinen müssen“, sagt Malin. Ihre erste Anprobe früher am Tag sei nicht spektakulär, sondern einfach schön gewesen. Geweint habe niemand. Auch das erste Kleid, ein Modell mit Schleppe und kleinen Knöpfen am Rücken, bewertet sie mit „Schön!“. Carola scheint den Geschmack der zukünftigen Braut getroffen zu haben. Nach dem Traumkleid klingt diese Reaktion aber nicht. Die beiden verschwinden deshalb wieder im hinteren Teil des Ateliers. Die Suche geht weiter. Malin probiert Kleider mit Cut-Outs, hochgeschlossene Kleider, Zweiteiler und das Kleid mit den gekreuzten Satinbändern an. Einige der Modelle lehnt sie schnell ab, andere schaffen es in die engere Auswahl.
Doch eines ist bei allen Kleidern gleich: Nachdem sich Malin im Spiegel betrachtet hat, schaut sie erwartungsvoll zu ihrer Schwester. Maras Meinung scheint ihr wichtig zu sein. Und Mara scheint genau zu wissen, was zu ihrer Schwester passt. Auch wenn Mara ihre Schwester liebevoll als den „spießigen Teil“ des Geschwister-Duos und sich selbst als Chaotin und Freigeist beschreibt, betonen beide, denselben Geschmack zu haben.
Während Malin die ausgewählten Kleider anprobiert, stattet Carola sie immer wieder mit Accessoires aus. Sie steckt ihr verschiedene Schleier in das locker eingedrehte, hellbraune Haar und setzt ihr einen Blumenkranz auf. Jetzt sieht Malin aus wie eine richtige Braut.
Jeden Tag verwandelt Carola ihre Kundinnen in Bräute. Selbst verheiratet ist die Designerin aber nicht. Sie spreche oft mit ihrem Freund über das Thema Hochzeit und beide wissen, wie sie sich ihren großen Tag vorstellen. Auf den Antrag warte sie aber noch.* Eine Hochzeit steht auch am Anfang ihrer Karriere als selbstständige Brautmoden-Designerin. „Meine Schwester hat ein Brautkleid gesucht, aber nichts passendes gefunden“, erzählt Carola. Die Lösung: ein Einzelstück. Sie habe mehrere Kleider genäht und daraus gemeinsam mit ihrer Schwester das Traumkleid entwickelt. Die Bilder ihrer Kleider hätten in den sozialen Medien Aufmerksamkeit auf sich gezogen, Fotografen seien interessiert gewesen. Nach der Hochzeit ihrer Schwester habe sich die heute 31-jährige Designerin deshalb selbstständig gemacht. Sie erzählt, wie sie anfangs die Kleider in ihrer „Nähecke“ zuhause schneiderte und nebenher in einem Café arbeiten musste. Heute ist sie Teil der Brautmoden-Fernsehsendung „Zwischen Tüll und Tränen“ und hat ihr Atelier nur wenige Schritte vom Hasselbachplatz entfernt. Die Räume in der Otto-von-Guericke-Straße sind nicht nur Carolas Arbeitsplatz, sondern auch ihr Zuhause. Ihre Wohnung ist über eine schwarze, metallene Wendeltreppe mit dem Atelier verbunden. Ob es schwierig für die Designerin ist, Beruf und Freizeit zu trennen? „Ich will das nicht trennen“, sagt sie. „Was ich mache, ist mein Hobby. Ich liebe es“.
Auch Malin scheint bei ihrer Anprobe etwas gefunden zu haben, was sie begeistert. Der Blumenkranz schafft es gemeinsam mit zwei klassischen Vintage-Kleidern, darunter das Modell mit den gekreuzten Satinbändern, in die engere Auswahl. Malin tritt in beiden Kleidern erneut vor den Spiegel. Sie betrachtet sich von allen Seiten und geht dann einen Schritt näher an den Spiegel heran, fast so, als wolle sie kein Detail unbeachtet lassen. Ihre Finger fahren immer wieder über den Tüll und die Spitze.
Woran die zukünftige Braut in diesem Moment wohl denkt? Vielleicht an ihren zukünftigen Ehemann. Die 23-jährige Zerspanungsmechanikerin, hat den zehn Jahre älteren Matthias als ihren Ausbilder kennengelernt. Lange hätten die beiden versucht, ihre Beziehung zu verheimlichen, am Ende seien sie aber doch erwischt worden. Den Heiratsantrag habe ihr Matthias schließlich während eines Silvesterurlaubes in Schweden, mit einem selbst gemachten, etwas zu klein geratenen Ring gemacht. Nach dem Hauskauf und der Geburt der gemeinsamen Tochter soll nun im August kommenden Jahres Hochzeit gefeiert werden.
Am Ende scheint das Kleid mit den Satinbändern das Herz der zukünftigen Braut etwas höher schlagen zu lassen. „Das ist ein Tick mehr mein Favorit“, gibt sie zu. Außerdem habe sie schon während der gesamten Anprobe immer wieder an dieses Kleid gedacht. Ihre Schwester stimmt ihr zu. Damit ist die Entscheidung getroffen. Carola notiert Malins Maße und alle Details zu dem ausgewählten Kleid. Einen Kaufvertrag setzt sie aber noch nicht auf. Malin solle noch eine Nacht über ihre Entscheidung schlafen. Mara scheint sich trotzdem schon sicher zu sein: „Das nimmt sie. Hundert Prozent. Das ist komplett sie.“
Nach einer Umarmung von Carola steigen Malin und Mara wieder vier Stockwerke hinab und treten hinaus in die Dunkelheit und Kälte, die den Hasselbachplatz mittlerweile umgeben. Zu diesem Zeitpunkt ahnt wohl noch niemand, dass das Kleid mit den gekreuzten Satinbändern nur wenige Tage später bei einer zweiten Anprobe seine Favoritenrolle an einen Zweiteiler verlieren wird.
* Kurz nach dem Interview für diese Reportage hat sich Carola Ackermann mit ihrem Freund verlobt. Den Antrag machte er ihr im Brautmoden-Atelier.
von Katharina Michel
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