Die geballte Fensterfront direkt vor meiner Nase trennt das hektische Treiben des Hasselbachplatzes und die Kälte des Winters von der ruhigen Atmosphäre in dem Café. Von hier aus hat das Beobachten des Geschehens vor den Fenstern etwas Beruhigendes. Schließlich sind es jetzt ja nicht mehr meine Finger, die in der Kälte zu Eiszapfen werden oder meine Füße, die sich bei jedem Schritt in Acht nehmen müssen, um nicht von irgendeinem rollenden Gefährt

überfahren zu werden. Ich sehe lauter Menschen, die an dem Fenster vorbeirennen, um nicht noch weitere fünf Minuten ihres Lebens damit verschwenden zu müssen, auf die nächste Bahn zu warten. Autofahrer, die trotz ihrer grellen Scheinwerfer weder Fußgänger noch Fahrradfahrer wahrnehmen. Und Straßenbahnen, die stets ihre Linien fahren und sich durch nichts und niemanden aufhalten lassen. Verkehrsregeln scheinen hier einfach außer Kraft gesetzt zu sein. Jeder ist genervt von jedem und es herrscht Chaos.

© Johanna Runde

Inmitten dieses Chaos‘ taucht vor dem Fenster, auf der gegenüberliegenden Straßenseite des Cafés, eine ältere Dame auf. Ebenso langsam wie der stockende Verkehr bewegt auch sie sich mit kleinen Schritten, die ihr sichtlich schwerfallen. In den Händen trägt sie mehrere Einkaufstüten, die sie Meter für Meter weiterträgt. Je länger ich diese kleine, in eine hellblaue Winterjacke gehüllte Dame betrachte, desto mehr verschwimmt mein Blick für das Geschehen um sie herum. Mit unsicheren Blicken nach links und nach rechts will sie sich vergewissern, dass es nun sicher ist, die Straße zu betreten. Gerade als sie den ersten Fuß auf die Straße setzt, zieht ein junger Fahrradfahrer nur knapp an ihr vorbei. Kurz wieder sammeln. Weiter geht’s. Weiter, an einer Gruppe von grölenden Jugendlichen vorbei, die wahrscheinlich auf ihre nächste Bahn warten. Weiter, indem sie die Abstände zwischen den Autos, die in den Kreisverkehr einfahren, ausnutzt, um sich so schnell wie sie kann auf die andere Straßenseite zu bewegen – dorthin, wo sie weder Autos, Straßenbahnen noch Fahrräder aus dem Konzept bringen können.

Während ich an meiner heißen Schokolade nippe und die Dame weiter beobachte, fällt mir auf, wie inspirierend sie auf mich wirkt. Unbewusst fange ich an mir Gedanken über ihr Leben zu machen. Sie scheint die Hektik, die hier am Hasselbachplatz herrscht, zu kennen und lässt sich in ihrem Vorhaben einfach nicht aus der Ruhe bringen. Vielleicht wohnt sie hier schon länger und all das hier ist ihr vertraut?

Auf der anderen Straßenseite angekommen, steuert sie eine Parkbank an. Mittlerweile haben sich die Einkaufstüten, die sie trägt, schon tief in ihr Handgelenk geschnitten. Sie streift die Henkel der Tüten von ihrer Hand und setzt sie nebeneinander auf der Bank ab. Pause. Ganz in Ruhe kramt sie mit ihren von der Kälte schon leicht bläulich gewordenen Händen in einer der Taschen, um nach etwas zu suchen. Vielleicht ein Taschentuch, denn ihre Nase läuft und an der Nasenspitze hat sich bereits ein kleiner Tropfen Rotz gesammelt. Nach längerer Sucherei zieht sie dann einen Kamm aus der Tasche. Ihrem Blick nach zu urteilen war das nicht das Ziel ihrer Suche, aber bei Regen und Wind die Haare zu kämmen, hält sie trotzdem für eine gute Idee. Diese verplante Art macht sie ehrlich, macht sie sympathisch.

Mir fällt auf, wie ähnlich sie ihm eigentlich ist. Sie ist zwar nicht ganz so alt wie er, aber an ihren Falten im Gesicht, den leicht verschrumpelten Händen und den müden Augen sieht man ihr an, dass sie schon viele Dinge gesehen und erlebt hat. Genau wie er. Aus diesen Erlebnissen sind Geschichten geworden. Geschichten von Familie und Liebe. Vielleicht auch von Trauer und Schmerz. Geschichten von schönen, einzigartigen Begegnungen. Möglicherweise auch von Gewalt.

An ihrer rechten Hand trägt sie einen silbernen Ring, der im strahlenden Scheinwerferlicht der vorbeifahrenden Autos ab und zu aufblitzt. Sie ist womöglich Ehefrau – und das wohl schon sehr lange. Mit der Zeit sind Ring und Finger eins geworden. Er ist ein fester Teil von ihr. Ist nicht mehr wegzudenken von ihrer Hand. Hat sich angepasst und eingebrannt. Er gehört zu ihr. Genau wie er. Seit es ihn gibt, ist er ein fester Bestandteil der Stadt. Wenn man auch nur einen Platz der Stadt kennt, dann ihn. Er ist nicht nur für die Menschen, sondern auch für den Verkehr der Stadt unersetzlich. Er ist ein fester Teil von ihr. Ist nicht mehr wegzudenken. Hat sich angepasst und eingebrannt. Er gehört zu ihr.

Er ist einer dieser Orte, der Menschen zusammenbringt. Menschen, deren Leben auf den ersten Blick nichts gemein haben, sich aber doch genau hier kreuzen. Er bietet Raum für Begegnungen. Raum dafür, sich gegenseitig wahrzunehmen, sich kennenzulernen und sich wertzuschätzen.

Genau wie sie. Vielleicht ist sie Mutter, vielleicht auch Schwester oder sogar Großmutter? Möglicherweise ist sie genau dieser Ort der Familie. Der Ort, an dem die Menschen sich treffen, sich gegenseitig Zeit schenken und sich zuhören. Ein Ort, der die Leben unterschiedlicher Menschen zusammenführt und Gelegenheit bietet, sich wertzuschätzen, Liebe zu schenken – eine Aufgabe, die bestimmt nicht immer leichtfällt, wenn jeder erwartet, sie immer anzutreffen.

Vielleicht wird sie von den Menschen um sie herum zu sehr als selbstverständlich genommen? Sie sind es möglicherweise gewohnt, sie zu haben, sich auf sie verlassen zu können. Ob sich dieser Ort auch mal Ruhe gönnen kann? Wahrscheinlich ist sie der sich ständig drehende Motor, der die Familie am Laufen hält. Vielleicht drücken ihre müden Augen und die kleinen, aber vielen Falten ihre Erschöpfung aus. Erschöpfung davon, immer gebraucht zu werden, für jeden da zu sein und das Leben der Familie aufrecht zu erhalten.

Genau wie er. Seit es ihn gibt, ist er für die Menschen zur Selbstverständlichkeit geworden. Jeder weiß, wer er ist und wo man ihn antreffen kann. Man kann sich darauf verlassen, dass er da ist, wenn man ihn braucht. Ob als Ort des Zusammentreffens, als Ort zum Feiern, als Ort, um zu anderen Plätzen zu gelangen, oder als Ort der Ruhe, an dem man sich durch das rege Treiben inspirieren lassen kann. Wie die Falten ihr Gesicht, zeichnen die Straßenbahnschienen seins: Erschöpfung. Erschöpfung davon, immer gebraucht zu werden, für jeden da zu sein und das Leben der Stadt aufrecht zu erhalten.

Täglich berühren tausende Füße den Platz, hetzen von einer Bahn zur nächsten, versuchen Autos und Straßenbahnen auszuweichen. Täglich fahren die Straßenbahnen hunderte Male über den Platz. Ob nach links, nach rechts oder geradeaus. An manchen Stellen sieht man, wie sehr er damit zu kämpfen hat. Auf den gepflasterten Gehwegen lösen sich bereits einzelne Steine und auch die Kennzeichnungen auf den Straßen verblassen langsam. Aber genau das macht ihn lebendig. Jedes Detail erzählt eigene Geschichten. Geschichten, die ihn zu dem Ort machen, der er ist.

Genau wie sie. Ihre eingefallenen Schultern und der gebeugte Rücken erzählen auch ganze Geschichten. Geschichten von vielen gelebten Lebensjahren. Aufmunternde, traurige, glückliche, aber auch erschütternde Geschichten. Geschichten, die sie lebendig machen. Geschichten, die sie zu dem Menschen machen, der sie ist.

Mit dem letzten Schluck meiner heißen Schokolade, die mittlerweile schon alles andere als heiß ist, komme ich aus dem Gedanken-Karussell wieder in die Realität. Meine Pause von der Hektik ist vorbei. Mit neuer Kraft und der Erkenntnis, dass wir häufig die Menschen, die Dinge, die Begegnungen oder die Orte, die wir am meisten sehen, am wenigsten zu schätzen wissen, verlasse ich das Café. Noch einmal schaue ich zur Parkbank, aber die Frau ist nicht mehr da. Dann nehme ich ihren Platz im regen Treiben des Hasselbachplatzes ein. Aber jetzt sehe ich ihn mit anderen Augen.

Von Johanna Runde