Am Hasselbachplatz wird täglich ein Stück gespielt, in dem der Zeit keine Rolle zukommt.

Während auf der Bühne des Alltags Momente unentwegt auftreten und wieder abgehen, können sie hier festgehalten, sogar gedehnt werden. Die Dunkelheit bildet die Kulisse, ihr Erscheinen hebt den Vorhang. Sei willkommen am Hasselbachplatz, dem Theater der Nacht!

Sie wacht über deine Zeit, wenn du sie nicht brauchst: die Uhr auf dem Hasselbachplatz. © Manuel Pape

Du sitzt im Café an der Ecke mit den Gedanken zwischen dem Doppelglas der Fenster. Oder du bist dem Duft des Restaurants ausgeliefert und denkst nach jedem getauschten Wort an einen Kuss. Oder du sitzt in der Bar am Tresen mit dem halb dunklen, halb klaren Schnaps, der nie bestellt, aber wärmstens vom Haus empfohlen wurde. Es gibt hier zahllose Akte, Akteure, Szenen und Szenenbilder. Keine Rolle jedoch spielt die Zeit in diesem Stück.

Der Hasselbachplatz ist nüchtern betrachtet ein Kreisverkehr mit vier Ausfahrten. Doch nüchtern betrachtest du ihn ja nicht. Deshalb ist er für dich ein turbulentes Kleinod voller Bars, in dem sich herrlich übersichtlich deine ganz eigenen kleinen Augenblicke im Wirbelwind des Kreisverkehrs bewegen. Um das Auge des Sturms zirkulieren gemächlich die Autos und achten beim Ausscheren ungeduldig darauf, Radfahrer und Fußgänger am Leben zu lassen. Die Straßenbahnen hingegen ignorieren die Gesetze der Natur. Sie durchschneiden das Auge ohne Rücksicht. Weil sie es können. Weil jeder weiß, ihnen obliegt hier die Hoheit.

Das Auge selbst ist eine über allem thronende Uhr, die in vier Richtungen niemanden interessiert. Denn der Hassel schert sich nicht um Zeit. Er kennt Hell und Dunkel, mehr nicht. Wer an ihm verweilt, hat Zeit und will sie loswerden. Zum Beweis musst du nur einen heimlichen Blick auf die Uhr dort oben werfen. Eines jeden Müßiggängers Zeit ist dort gut aufgehoben und kann nach Belieben wieder abgeholt werden. Und so bist auch du nun, befreit von der Regie der Zeit, auf der Suche nach dem, was du kennst und kannst, gehüllt in deine Rolle, die nur du am besten zu spielen verstehst.

Du gehst rein, „Moin“, greifst ein Sterni, bezahlst, „danke!“ und gehst. Viel mehr Worte fallen hier im Spätshop nicht. „Das ist wie Fast Food“, sagt Maslum Isik, „nehmen und gehen, nehmen und gehen“. Er gehört als Mitarbeiter des Cityshops zur festen Bühnenbesetzung für den meist wortkargsten aller Akte. Maslum ist 28 Jahre alt. Er lebt seit 18 Jahren am Hassel, ebenso wie seine Eltern und nun auch seine Tochter Delal, die vor wenigen Wochen geboren wurde und ihn damit erstmalig zum Vater macht. Ganz stolz berichtet er von seinem Familienzuwachs, als ein Freund ihm einen Strampelanzug für die Kleine vorbeibringt. Heute ist Samstag. Maslums Schicht geht bis vier. Fünf Tage die Woche steht er hinter dem Tresen, der von den Kühlschränken im Verkaufsbereich nur einen guten Schritt entfernt ist. 

Deine Kippen sind alle, also bist du noch einmal in den Späti zurückgekehrt. Im schmalen Gang tummeln sich gerade ein paar Mädels, die bester Laune die gekühlte Auslage begutachten. Die Haare sind aufwendig frisiert, die Kleider sorgfältig gewählt, der gewünschte Sekt gegriffen. Du schaust alle an, keine dich. Was sie sagen, weißt du nicht, denn sie sprechen vermutlich russisch.

Vor der Tür hat ein älterer Herr Stopp gemacht und reckt seinen Kopf über die Türschwelle. Er wirkt etwas verlebt, von harten Jahren gezeichnet. Ein paar Tage schon hat sein Gesicht keine Rasierklinge gespürt. Die zahllosen Falten gehen tief und sein Körper ist zu schwer geworden für seine restliche Kraft allein. Er stützt sich auf einen Rollator, der mit unzähligen bunten Kleinigkeiten behangen ist. „Salam aleikum“, ruft er mit tiefer, kratziger Stimme Maslum entgegen. Dabei lächelt er wie ein liebenswürdiger Opa aus einem bebilderten Kinderbuch. „Wa aleikum as-Salam“, erwidert Maslum, „alles gut bei dir?“. „Na klar, ich habe ja mein Auto bei mir!“ Der alte Mann haut sanft und lachend mit der Handfläche auf den rechten Griff seines Rollators und gibt wieder Gas. „Der kommt fast jeden Tag. Auch wenn er nichts kaufen will, dann grüßt er nur“, erzählt Maslum, „das ist ein richtig liebevoller, netter Mensch.“

Genau das sei das Schöne an dieser Arbeit. „Ein anderer kommt oft rein und sagt ‚Du und ich, wir sind Freunde. Mohammed und Jesus sind Freunde’, sagt er.“ Und wenn mal einer reinkomme, der zu betrunken ist, Stress macht und diskutieren will, dann gehe Maslum da nicht drauf ein. „Hat keinen Sinn. Ich frage ihn einfach, was er will und hole es ihm selbst aus dem Kühlschrank. Das geht schneller.“

Zurück auf der Straße steuerst du querfeldein über die Haltestelle auf die andere Seite. Schritt für Schritt über die Pflastersteine genießt du die erste Zigarette deiner neuen Schachtel und den Anblick dieses Bühnenbildes, das dir so vertraut ist wie die Stimme deiner eigenen Mutter. Mit der kühlen Nachtluft im Gesicht biegst du ab in die Sternstraße, dorthin, wo die meisten Bars auf dich warten. Vor dem Café Central steht eine Zweckgemeinschaft aus Raucherinnen und Rauchern. Beim Versuch hindurchzugleiten, hält ein „Hey!“ dich auf. Drei gute Freunde, die du bei Tageslicht noch nie gesehen hast, schlagen nacheinander ihre rechten Hände mit deiner zusammen, ihr zieht euch aneinander, klopft euch gegenseitig auf den Rücken und löst euch wieder aus dieser Fast-Umarmung. Damit ist es besiegelt: Deine Nacht beginnt im Central.

Du kommst rein und weißt sofort, dass du kein Bier willst, sondern ein gutes Bier oder gleich einen feinen Whisky und bestellst beides. Die Tapete ist feudal verziert wie der Prunksaal eines alten Schlosses, dunkles Holz und schlichte brennende Stilkerzen auf allen Tischen, denn stilvoll geht die Welt zugrunde, so sagt man. Die lauschigen Ecken sind von Pärchen besetzt, die ihrer Körpersprache nach ihr erstes Date sichtlich genießen, denn sie sind zueinander gewandt, haben nur Augen füreinander, aber wagen noch keine Berührung.

Mit deinen neuen Kumpanen lässt du dich an der Bar nieder und baldowerst — während ihr über Musik sprecht, die du nicht ausstehen kannst — unauffällig den gesamten Innenraum aus. Du entdeckst dabei den eitlen Lauten, die intellektuell Unnahbare, den vermutlich Wahleinsamen, die schüchterne Schöne, eine Gruppe Erstsemester und einige Leute, für die dir nicht auf Anhieb eine Schublade einfällt. Letztere heute noch kennenzulernen, ist am unwahrscheinlichsten, denn sie sind für dich nur Komparsen, die der Atmosphäre dienen.

Zwei Bier, zwei Whisky, einen Haselnussschnaps und drei Mexikaner später überlegst du, warum du und die Menschen wohl so gerne Rollen spielen und kommst zu dem Schluss: „Um dem routinierten Ich zu entfliehen, es vielleicht auch zu erweitern und damit selbst zu erfahren, wie viel man noch sein kann“. Und weil sich das jetzt irgendwie gereimt hat, bittest du den Barkeeper um Zettel und Stift, denn du willst dichten. Du schreibst: „Veilchen sind blau, die Rose sticht, 69 ist auch nur ein Arschloch im Gesicht“. Sofort musst du diesen Geistesblitz mit sämtlichen Menschen in der Bar teilen. Niemand lacht. Die intellektuell Unnahbare hat gerade eine Schublade für dich gefunden.

Plötzlich meldet sich die Schmacht nach einer Zigarette. Die letzte Kippe ist immerhin zehn Minuten her und gefühlt sind das für dich ganze zehn Minuten. Vor der Tür schmeißt du einer kleinen vorbeiziehenden Gruppe ein „Hey!“ hinterher. Sie freuen sich, dich zu sehen, haben das aber noch nie bei Tageslicht getan. Gute Freunde also. Sie wollen noch eine Tür weiter ins Hyde. Du sicherst auf Nachfrage zu, nur noch dein Bier auszutrinken und nachzukommen.

Noch immer ungestillten Durstes betrittst du die neue Szene und entscheidest spontan, nicht die Treppe nach oben zu nehmen, wo deine Freunde auf dich warten, sondern nimmst, nach einer innigen Umarmung mit dem Wirt, direkt an der Bar platz. „Ich wurde aufgehal-ten“, ist hier schließlich eine stets akzeptierte Ausrede. Neben den Hockern steht ein Aquarium mit lebenden Fischen. So hat jede Bar ihre ganz eigenen Requisiten. Das erste Frischgezapfte wird dir kredenzt und Schulter an Schulter mit anderen Herumtreibern fühlst du dich wohl, sicher und wie zuhause. 

Für manche Bühnenveteranen entsteht hierin zuweilen eine Routine. Da findest du dich wieder und wieder auf deinem Stammhocker wieder und wieder. Und wieder weißt du, der da spielt heute diese Rolle, sie diese und auch deine Figur steht im Skript, das du schon auswendig kennst. Du schmunzelst dem Barmann entgegen. Ihr schaut euch in die Augen, aber seht das leere Bierglas zwischen euch. Die wortlose Bitte kommt an, „die Luft kommt raus“. Prost.

Besonders in der Routine eines ständig gespielten Stücks liegt für den Schauspieler die Gefahr für Fehler. Und du weißt schon lange: Der Fehler ist die Routine selbst, doch die Rolle des Bohèmiens, des Halodris und Tunichtguts ist einfach zu schön, um sie aufzugeben. Doch längst weißt du nicht mehr, ob du die Rolle oder die Rolle dich gewählt hat. Auch dieser Gedanke kommt dir nicht zum ersten Mal. Jedoch ist er nur bei Tag mit Wehmut und Selbstzweifeln behaftet. Hier und jetzt bist du bloß voll des Glücks, in deinem Element, auf deinem gewohnten Parkett zu sein.

Inzwischen übernimmt mithilfe von Smartphone und Auxkabel der Wirt eine Doppelrolle. Wie eine Jukebox schmettert der neue DJ alles raus, was irgendjemand für einen Klassiker hält. Es wird text-, aber nicht tonsicher mitgesungen. Zwischendurch gibst du mit etwas Hintergrundwissen an, denn der Sänger Moby heiße Moby, weil er mit Herman Melville, dem Autor von Moby Dick, verwandt sei. „Geil“, sagt einer und fragt rhetorisch „nehmen wir noch ’ne Runde?“.

Mittlerweile ist die Kneipe verriegelt, doch ihr sitzt noch immer auf der richtigen Seite der Tür. Als der Wirt Schrägstrich DJ dann aber doch beschließt, dass seine Figuren für heute zu Ende erzählt seien, erhebt ihr euch unter Stöhnen von den Hockern, du kramst deine letzten Scheine raus, entlohnst den Mann und gemeinsam wird die Tür gefunden.

Jetzt kann es nur noch ein Ziel geben: das Flower Power! Wirklich. Es KANN nur noch dieses eine Ziel geben. Denn: Sonntag und Montag bis 3, alle anderen Tage bis 5 Uhr. Das weißt du. Das weiß jeder. Dank einer fantastischen Bühnenausstattung machst du auf dem Weg noch Halt am Sparkassenautomat direkt neben dem Kreisel. Aus mehreren Fenstern hinter dir dröhnen Musik, Gelächter und Gebrüll. Eine WG-Party. Mit Sicherheit nicht die einzige heute. Du sparst dir aber die Farce, dich dort einzuschleichen und hältst gemeinsam mit dem einstigen Wirt und deinen neuen guten Freunden an eurem Plan fest.

Liebevoll von seinen Gästen auch „Flopo“ genannt, dient sein himmelblauer Holzfußboden als Bühne des letzten Aktes. Die Decke ist grün und mit gebastelten Blumen übersät, denn hier steht die Welt eben Kopf, so das Konzept. Die bekannteste Requisite: Über den Köpfen der Barkeeper hängt eine kleine Plüsch-Kuh an einer Schnur. Auf Zuruf wird über einen Schalter ein Motor aktiviert, wodurch das Eutertier entlang dem Tresen durch die Kneipe schwebt. „Lass die Kuh fliegen!“, rufst du mit schwerer Zunge. An der Bar wartet ein Hocker auf dich. Er ist noch warm. Obwohl es durch die verqualmte Luft kaum noch nötig ist, zündest du dir eine Kippe an, bestellst ein Bier vom Fass und spürst einen Klaps auf deiner linken Schulter.

Mit verschwitzter Stirn und breit grinsend schaut er dich an, dieser jemand, der sich überschäumend darüber freut, dich wiederzusehen. Er will einmal von dir wissen, was du hier machst und zweimal, wie es dir geht. Sein für dich namenloses Gesicht kommt dir sogar bekannt vor und du reagierst, als sei dieses Wiedersehen auch dein Highlight des Abends. Ach was! Des Monats! Darauf erst einmal einen Slushy. Der Klassiker hier. Kirsch- oder Apfelsaft mit Wodka, gefroren, gerührt, viel Spaß beim Schütteln!

Die leeren Gläser verschwinden umgehend vom Massivholz der Theke, um fachmännisch von Torsten (Name geändert) durch die Spüle gezogen zu werden. Torsten führt die Regie im Laden und er wisse, was er an seinem Flower Power hat: eine Belegschaft, wie eine Familie und einen Ort für jeden. „Man kann alleine kommen, aber ist niemals allein“. Mit den Stammgästen, den „Stammis“, pflege er eine geradezu innige Geschäftspartnerschaft. Es gebe sogar eine WhatsApp-Gruppe, in der die Stammis ihr Kommen oder — nach Wegzug aus Magdeburg — ihren Besuch ankündigen. Wer sich mal in eine andere Bar verirrt, schicke auch mal ein Foto.

Mit deinen Leuten sitzt du auf einer harten, unbequemen Holzbank. Es ist eng, laut, verraucht. Der gelallte Singsang aus feinstem Sachsen-Anhaltinisch klingt für dich wie nüchternstes Hochdeutsch. Du fühlst dich sauwohl. Damit das so bleibt, wachen zwei Türsteher am Eingang, um die um Einlass Ersuchenden freundlich abzuweisen, wenn sie durch einen Überschuss an Aggression oder zu wenig Blut im Alkohol auffallen. „Die Menschen sind aggressiver geworden“, sagt Torsten. Als „Patienten“ bezeichnet er diejenigen Gäste, welche sich stolpernd eloquent über den Bierpreis beschweren oder aus unerfindlichen Gründen unbedingt und auf der Stelle mit dem Chef sprechen wollen. Und das sei auch der Grund, weshalb Torsten, der Chef, nicht seinen echten Namen hier lesen möchte. Denn selbstredend sei der Chef „außer Haus“, wenn Gast eine dringliche Beschwerde einlegen möchte, weil in der Kneipe nebenan das Bier 20 Cent günstiger war.

Dann, plötzlich, passiert es: Der visuelle Glockenschlag des weißen Deckenlichts verkündet den Zapfenstreich und scheucht umgehend dich und all die anderen für heute ausgespielten Figuren auf die Straße. Ein kurzer Blick auf die Uhr am Hassel gibt dir deine Zeit zurück. Weder ein Gedanke an das Geschehene noch an den nächsten Tag stolpert dir in den Kopf, dafür aber du in den Nachtbus. Entlang des Breiten Weges fährt er dich Richtung wohlverdienten Schlaf. Bewusst setzt sich niemand an deine Seite, dir gegenüber oder auch nur in deine Nähe. Ab hier will wieder jeder für sich sein. Manche verstecken sich in ihren Kapuzen, andere kapseln Kopfhörer ein und sich ab. Du lachst ein letztes Mal für heute laut auf, weil dir doch noch einfällt, dass dir vorhin jemand erzählt hat, der Breite Weg sei das Vorbild für den Broadway in New York. Und das Flat Iron Building dort sei dem Plättbolzen am Hassel nachempfunden, in dem jetzt der Bäcker Gehrke ist. Eine schöne alte Legende ohne jegliche Beweise. Aber hey! Im Gegensatz zum Broadway sind die Tickets hier am Hasselbachplatz gratis.

Von Manuel Pape