Von Menschen und Friedhöfen

In jedem Dorf, jeder Stadt und jedem Land gibt es diesen Ort, von manchen gemieden und von anderen bewusst aufgesucht. Es ist ein Ort von Geschichten, Erinnerungen, Trauer, Frieden, Unbehagen, Furcht – von Licht und Dunkelheit. In einer überfüllten, lauten Welt ist er ein besonderer und stiller Fleck auf dieser Erde. 

pastedGraphic.png

Bild 1: Einer der Eingänge des Städtischen Friedhofs in Chemnitz.

Einen Zugang solch einer Stätte bildet das schmiedeeiserne, dunkle Tor, vor dem ich stehe. Sobald ich die Schwelle überschreite, lasse ich Straßenlärm und Menschenkrach zurück. Je weiter ich in das Innere des Städtischen Friedhofs von Chemnitz laufe, desto ruhiger wird es. Das einzige was zu hören ist, sind die knirschenden Schritte auf dem Kiesweg. Um mich herum sind hohe, majestätische Nadelbäume. Sie sind die geheimen Wächter dieses Ortes. Es riecht nach Tannennadeln und nasser Erde. Vereinzelte Sonnenstrahlen bahnen sich ihren Weg durch die dicke, weiße Wolkendecke. Wo ihr Schein auf den Boden trifft, entstehen grüne Tupfer zwischen den Resten von Schnee. Meine Füße tragen mich zu zwei kleinen Holzbänken. Davor stehen vier Gemeinschaftsgräber mit jeweils zwölf Plätzen. Einer davon gehört meinem Opa. Eine spärliche, weiße Decke liegt noch über ihnen. Doch meine Bank ist heute besetzt. Auf ihr sitzt, in eine schwarze Daunenjacke gehüllte, eine ältere Frau. Sie trägt eine schwarze Baskenmütze und hat eine große, braune Tasche neben sich auf der Bank stehen. Kurz entschlossen setze ich mich auf die zweite Holzbank und versinke in Gedanken. Ich frage mich, worüber die Frau neben mir grübelt. Vielleicht ist sie in einem stillen Gespräch mit ihrem verstorbenen Angehörigen. Ist sie hier, um ihren Mann zu betrauern? Wollte dieser überhaupt in einem Gemeinschaftsgrab liegen? Oder genießt sie einfach die Ruhe der Umgebung?

pastedGraphic_1.png

Bild 2: Die zwei Holzbänke vor den Gemeinschaftsgräbern des Städtischen Friedhofs.

Wenn ich den riesigen Grabstein anblicke und die zwölf verschiedenen Namen lese, muss ich immer an die Worte von meiner Mutti denken: „Ist das nicht irgendwie komisch, dort Nachbarn zu haben, die du gar nicht kennst und mit Leuten zur letzten Ruhe gebettet zu werden, die gar keinen Bezug zu dir hatten? Ich finde schon.“ Tatsächlich geht die Bestattungskultur immer mehr in diese Richtung. Gemeinschaftsgräber werden in der Regel von der Friedhofsgemeinde gepflegt und daher von den Angehörigen zunehmend bevorzugt gewählt. Ebenso gab es eine Entwicklung bei der Bestattungsmethode. Verschiedene Elemente können dabei eine Rolle spielen. Feuer, Wasser, Luft, Erde und Holz. Zwei Drittel der Bestattungen sind Einäscherungen. Selbst die katholische Kirche trennt sich langsam von der Konvention der Sargbestattung. Der Körper ist nicht gleich die Seele. Und die Seele scheint feuerfest. 

Während ich auf der Holzbank sitze und über die verschiedenen Bestattungen nachdenke, erfasst mich ein sehr unruhiges, unangenehmes Gefühl. Als junger Mensch versuche ich das Thema Tod aus meinem Alltag zu verdrängen. Ich kann mir nicht vorstellen, nicht mehr zu existieren. Aber da ich beim Sterben ebenso wenig Mitspracherecht habe, wie bei der Geburt, und alle Gesetze im Universum scheinbar dem Zufall unterliegen, sollte wenigstens die letzte Ruhestätte ein besonderer Ort sein. Der Ort der Geburt, der Familie, des Aufwachsens, der Liebe oder des Glücks. Wie verhält sich das bei Menschen, die so einen Ort noch nicht gefunden haben oder vielleicht nie finden werden?  

Der Friedhof ist auch eine Heimatsfrage. In welcher Erde willst du landen, wenn du keine Wurzeln hast? Den 27-Jährigen Laszlo* beschäftigt diese Frage schon lange. Er ist ein großer, schlanker, blonder Mann mit rotstichigem Bart. Als der Sohn von Eltern, die vor 30 Jahren nach Deutschland flohen und hier Zuflucht vor dem Unterdrückerregime des kommunistischen Rumäniens suchten, wuchs er zwischen zwei Welten auf. Da wäre zum einen die Heimat seiner Eltern in Siebenbürgen, wo auch heute noch sehr große Teile seiner Familie leben. Zum anderen wäre da Deutschland, um genauer zu sein der kleine Ort Darmsheim, wo er aufgewachsen ist, Freunde fand und die deutsche Bildung genoss. Für ihn ist der Friedhof ein Ort, der eine Bedeutung haben sollte. Ein Ort der Heimat. Jedoch existiert so ein Ort für den jungen Mann nicht. In die Wiege seiner Kindheit kann er nicht mehr zurück, seine Eltern sind längst weitergezogen und die Freunde von früher gibt es nicht mehr. Er wohnt nun schon seit acht Jahren in Chemnitz, aber auch das empfindet er nicht als seine Heimat. Er ist immer so umtriebig und weiß nicht, auf welchem Friedhof er mal Ruhe finden soll. „Der Friedhof löst bei mir einen Zwiespalt aus. Einmal will ich schon, dass ich irgendwo später liege und die Leute sich dort an mich erinnern können. Anderseits bin ich auch so rastlos, dass ich mir denke das macht gar keinen Sinn und man könnte die Asche auch irgendwo verstreuen. Sowie man keine Spuren im Leben, auch keine im Tod hinterlässt, auf dieser Welt. Es hört sich zwar etwas düster an, aber das beschreibt meinen Zwiespalt am besten“, bei den letzten Worten muss er selbst leicht lachen. 

Der Kies auf dem Asphalt knirscht und mehrere aufgeregte Stimmen durchbrechen meine Gedanken und die Stille. Eine Gruppe junger Menschen in bunten Fleecejacken hastet über den Platz. Sie haben keinen Blick übrig für die Namen und Geschichten um sie herum. Sie starren auf ihre Handys und lassen ihre Finger über die Bildschirme kreisen. Sie jagen Pokémons, wie manch anderer längst vergessene Erinnerungen. Als ihre knirschenden Schritte verklingen, stehe auch ich auf. Die Frau auf der anderen Holzbank schaut nach wie vor auf das Grab und ein leichtes Lächeln umspielt ihre Lippen.

Meine Schritte führen mich tiefer in die stille Welt hinein. Vorbei an verwilderten Familiengruften, längst vergessenen Namen und großen, porösen Statuen. Doch so still ist es gar nicht. Vögel zwitschern ihren ersten vorsichtigen Frühlingsgesang und Eichhörnchen springen bei ihren wilden Verfolgungsjagden durch die Äste. Mir wird auf einmal sehr bewusst, dass der Friedhof nicht nur ein Ort des Todes, sondern auch des Lebens ist. Diese Meinung teilt auch Julia, eine zarte, junge Frau mit dunklen braunen Augen und langen, braunen Haaren. Sie hat vor einiger Zeit ihr Masterstudium in Biologie beendet. Während sie als Kind Friedhöfe unheimlich fand, wegen „all den Knochen und toten Leuten“, hat sich dieser Ort für sie mittlerweile gewandelt. Oft hatte sie in der Nähe von einem Friedhof gewohnt. Jetzt lebt sie in Göttingen und nutzt den Stadtfriedhof immer mal wieder für einen Spaziergang. Auf diesem Friedhof hat sie zum Beispiel Forststudenten bei der Baumpflege und Baumbestimmung beobachtet. Oder sie war selbst mit ihrem Ornithologie Kurs zum Amseln zählen dort. „Natürlich ist es auch ein Ort der Ruhe ausstrahlt und seine Würde hat. Ich steige auch immer vom Rad ab und schiebe es, anstatt zu fahren.“ Sie hat Lieblingsbereiche mit besonderen Stimmungen und ihre Stimme wird ganz verträumt, wenn sie davon erzählt. Ein See mit großen Buchen entlang des Ufers, besonders ausgefallene Statuen, eine verwilderte Mauer mit schönen Moosen oder eine alte Kirschbaumallee. Das sind die Art von Orten, die sie besonders gern auf Friedhöfen aufsucht. Sie meidet dagegen die Soldatengräber. Diese haben nur kleine Plaketten davor liegen, Heidekraut wächst auf ihnen und es sind einfach so viele. Das bedrückt Julia und sie findet es tragisch, wie viele Menschen ihr Leben im Krieg lassen mussten. Genau deswegen ist für sie ein Friedhof auch ein wichtiger Ort der Geschichten und der Erinnerung. 

Wenn Julia über den Göttinger Friedhof geht, dann ohne persönlichen Bezug. Denn ihre Verwandten sind im Ausland begraben. Ein Friedhofsbesuch in Ungarn ist deswegen immer auch ein Familienbesuch. Sie tauscht sich mit ihren lebenden Verwandten aus und erfährt Geschichten der Verstorbenen und die Vergangenheit ihrer Vorfahren. Daher sind die meisten ihrer Erinnerungen an einen Friedhof positiv. Die Friedhöfe in Deutschland sind für sie folglich eher ein Ort der Lebenden. „Friedhöfe sind wichtige Lebensräume, da dort alte Baumbestände und andere ökologische Strukturen bestehen. Das bietet ganz vielen Tieren, Pflanzen, Flechten und Pilzen ein besonderes Biotop. Bei manchen Friedhöfen wird auch darauf geachtet, dass die Gräber insektenfreundlicher sind und es werden bestimmte Blumen gepflanzt oder Orte ohne Gräber werden zu Blumenwiesen. Natürlich ist das eine Gratwanderung und man sollte die Wünsche der Angehörigen stets respektierten und achten.“ 

Was sie sich selbst für ihren eigenen Tod vorstellt? „Ich weiß nicht, ob ich unbedingt auf einem Friedhof liegen will. Ich will nicht, dass meine Familie einen großen Aufwand betreiben muss. Ich finde das Konzept eines FriedWaldes aber sehr schön“, antwortet sie nachdenklich. Ein FriedWald ist eine von vielen Alternativen zu der klassischen Bestattung auf dem Friedhof. Unter den Bäumen wird die Asche der Verstorbenen in biologisch abbaubaren Urnen begraben. Eine kleine Namenstafel erinnert dann an den Toten und wird an dem Baum befestigt. 

Solche Namenstafeln finde ich auf dem Chemnitzer Friedhof nicht. Dafür aber karge Blumensträuße auf großen, grünen Flächen. Keine Namen und kein fester Ort zum Trauern. Das sind die so genannten grünen Wiesen, die Massengräber von diesem Friedhof. Die Plätze dafür sind billig, jedoch kann man nur erahnen wo die geliebten Menschen liegen. Mein Blick gleitet weg von den Wiesen hin zu einer langen Allee. Auf beiden Seiten sind Familiennamen zu lesen. Die Großen der Großen von Chemnitz. Ihre alten Gräber sind Erinnerungen an eine prächtigere Zeit. Der Stein ist teilweise porös und schwarz. Ich begegne dem leeren Blick einer Frau. Sie sitzt auf einem der Gräber. Wahrscheinlich sitzt sie da schon seit mehreren Jahrzehnten. Ihr schwarzer Stein hat sich unter ihren Augen verfärbt. Nun scheint es, als würde sie türkise Tränen vergießen. Diese Frau stellt für einige Besucher des Friedhofs die griechische Göttin Hygieia dar. Sie ist die Göttin der Gesundheit und ihr Fuß steht triumphierend auf dem Dämon Bazillus. Dieser bringt den Menschen Krankheiten und Leiden. Und nicht immer siegt Hygieia.

pastedGraphic_2.png

Bild 3: Die Göttin Hygieia mit ihrem Fuß auf dem Dämonen Bazillus. Eine Grabstätte auf dem Chemnitzer Friedhof.

Der Tod kommt für manche nicht überraschend. Manche können sich darauf vorbereiten und manche helfen dabei. Rebekka ist eine dieser Helferinnen. Für Rebekka ist der Friedhof ein Ort der Erlösung und gleichzeitig ein Platz, wo die Menschen zur Ruhe kommen können, egal ob lebendig oder tot. Die braunhaarige Frau mit der sanften Stimme arbeitet im Bereich der palliativen Medizin. Das bedeutet sie berät, versorgt und begleitet die Menschen beim Sterben. „Durch meine Arbeit habe ich erfahren, dass die meisten Menschen glücklich sterben. Am Ende sind sie relativ zufrieden.“ Sie betont aber, dass dies nicht auf Unfall- und Gewaltopfer zutrifft, sondern eher auf die Menschen, die im Krankenhaus sterben. Sie selbst besucht in ihrem Urlaub auch in fremden Städten gern Friedhöfe, weil sie so die Kultur kennenlernt, fremde Namen liest und die Atmosphäre dort einfach schön findet. 

Warum sie gerade in diesem medizinischen Bereich arbeitet? „Es ist ein wahnsinnig unterschätztes Feld, man hat viel Zeit für die Kranken, die Personalschlüssel sind besser und man arbeitet interdisziplinär zusammen z. B. mit Musiktherapeuten oder Physiotherapeuten. Wir können eine Menge zur Beruhigung der Patienten vor dem Tod beitragen.“ Sie kann mit den Patienten ihre letzten Dinge erledigen, beispielsweise einen Friedhof suchen und gemeinsam die Beerdigung planen. Ein Moment hat sie bei der Arbeit besonders berührt. Ein Patient, Mitte 40 hat mit ihr gemeinsam Briefe für seine Tochter geschrieben. Für all die wichtigen Anlässe, bei denen er nicht mehr dabei sein kann. Ein Brief für ihren 16. Geburtstag. Einer für ihren 18. Geburtstag. Einen für die Hochzeit. Einen für die Geburt ihres ersten Kindes. Alle möglichen Meilensteine ihres Lebens auf Papier. Ein paar Tage später verstarb der Mann. 

Er und viele Andere durchleben dabei verschiedene Phasen. „Es gibt die fünf Phasen des Sterbens. Ich finde es schön, dass die meisten Menschen irgendwann in der letzten Phase – der Akzeptanz – ankommen. Dann machen sie nochmal das Beste aus ihrem Leben und man kann ihnen ihre letzten Wünsche erfüllen.“ Davor folgen die Phasen: Nicht-Wahrhaben-Wollen, Zorn, Verhandeln und Depression. Diese können parallel verlaufen, länger oder kürzer ausfallen. Manchmal werden einzelne Phasen auch übersprungen. Aber am Ende wird der Tod, die eigene Sterblichkeit meist akzeptiert.  

Zu den Aufgaben von Rebekka gehört auch, den Menschen zu vermitteln, dass sie sterben werden. Medizinisch können sie aber dennoch viel für die Patienten tun. „Wir nehmen den Sterbenden ganz viel Leid, Schmerz, Angst, Atemnot, Unruhe und Übelkeit.“ Sie arbeiten dabei nicht nur mit Arzneimitteln, sondern auch mit Alternativmaßnahmen, die viel bewirken und den Patienten die Furcht nehmen können. Dazu zählt zum Beispiel auch die Musiktherapie. Natürlich baut Rebekka durch ihre Arbeit auch ein Verhältnis zu den Patienten auf. Sie begleitet sie bis zum Ende. Dann nimmt sie Kontakt zu den Bestattern auf, macht die Toten für die Beerdigung zurecht und übergibt sie damit dem Friedhof. „Der Tod ist gar nicht immer schlecht“, sagt sie. In ihren Augen ist der Friedhof vor allem ein sehr trostvoller Ort für die Angehörigen. 

Meine Füße tragen mich langsam zurück zum Eingang des Friedhofs. Trotz der einzelnen Sonnenstrahlen ist mir langsam kalt. Ich gehe nochmal an den zwei Holzbänken vorbei. Die Frau sitzt immer noch da. Immer noch sanft lächelnd in ihre Gedanken vertieft. Ob sie schon weiß, wo sie ihre letzte Ruhe verbringen will? Wer wird mal für sie auf dieser Bank sitzen? 

Jeder Mensch kommt mit unterschiedlichen Empfindungen und Wahrnehmungen auf den Friedhof. Für jeden bedeutet dieser Ort etwas anderes. Für mich bedeutet er Ruhe und Frieden.

*Name geändert

Text und Bilder von: Elisa Raßmus