Lars Graue studiert im Master Journalismus an der Hochschule Magdeburg-Stendal. Im April dieses Jahres hat er Rainer getroffen und mit ihm einige Stunden verbracht. Seinen Einblick in das Leben des 64-jährigen Obdachlosen fasst er eindrücklich in einer Reportage „Fast taub, aber nicht stumm“ unter dem Motto „Nicht unterkriegen lassen: die Geschichte einer Selbstbehauptung“ zusammen.

„Bella ist wie eine Wärmflasche“, sagt Rainer, 64, und fängt laut an zu lachen. Tatsächlich fühlt sich Isabella warm an. Sorgfältig platziert er sie neben sich auf die Fleecedecke, die auf einer faustdicken Matratze liegt. Auch die Matratze ist warm, obwohl es draußen immer ungemütlicher wird. Sie liegt auf einem Lüftungsschacht, Rainers Wärmequelle. Er zupft akkurat an Isabellas Haaren herum, bis alle Fussel weg sind. Sie sehen aus wie blonde Dreadlocks. Ihr Gesicht verändert sich dabei nicht. Sie lächelt schon die ganze Zeit, denn sie ist eine Puppe. Früher habe Rainer mehr als 280 Puppen gehabt – die meisten davon aus Porzellan. Nicht vollständig, natürlich nur die Köpfe, Hände und Füße, erklärt er. Er hat sie gesammelt, obwohl die Leute ihn deshalb für „bekloppt“ gehalten haben. „Das Regal dafür hab‘ ich damals selbst gebaut“. Heute hat Rainer keinen Platz für so viele Puppen, geschweige denn ein Regal, denn er lebt seit vier Jahren auf den Straßen Magdeburgs.

„Gleich da in der Hohepfortstraße hab‘ ich mit einem Kumpel zusammengewohnt.“ Allerdings seien sie dort rausgeflogen, „Mist“ hätte sein Kumpel gebaut. Er sei mit dem Alkohol nicht zurechtgekommen. „Gezappelt“ hätte er, nachdem er zuvor umgekippt war. „Fast wär‘ der erstickt.“, wenn Rainer ihn nicht auf die Seite gelegt hätte. „Ekelhaft“. Seine Augen lassen den Schock von damals für Zehntelsekunden aufleben. Schnell wechselt Rainer das Thema.

Sein fester Platz ist vor einem Hörsaalgebäude der Universität. Hier liegt nicht nur seine Matratze. Eine Wasserflasche und zwei Plastikeimer mit Essen für morgen stehen daneben. Außerdem ein schlichter schwarzer Rucksack und eine weiße Plastik-Tragetasche. Der Rest seiner Sachen befindet sich in einer weiteren Tasche. Sie hängt vor Rainer an einem orangenen Absperrzaun aus Metall. „Der Zaun steht hier schon über ein Jahr rum“. Praktisch für ihn. Ein Blick hinter den Zaun zeigt, warum: In den Öffnungen der Metallstangen stecken Löffel, Gabel und Schere. Ein paar Zentimeter darunter steht ein Wecker auf einer Kante, links und rechts daneben zwei Parfumfläschchen. Eins für Isabella, eins für Rainer. Oft werde aber auch gemischt. „Das riecht hier wie auf der Reeperbahn.“.

 

© Lars Graue

Rainer trägt einen dezenten Bart – nur ober- und unterhalb seiner Lippe sind dunkel- und hellgraue Barthaare zu erkennen. Die letzte Rasur scheint noch nicht lange zurückzuliegen. Seine Augen, Wangen und sein Hals weisen tiefe Falten auf. Er hat eine dunkelgraue Jacke an, trägt dazu eine schwarze Kappe auf dem Kopf. „Wolfsburg“ steht drauf. „Nee, da komm‘ ich nicht her“, die habe er nur geschenkt bekommen. „Da habe ich aber direkt nach der Wende mein Begrüßungsgeld gekriegt!“. Seine rauchige Lache macht den Bremsgeräuschen der Straßenbahn nebenan Konkurrenz.

Regelmäßigen Kontakt zu anderen Obdachlosen hat Rainer nicht. Er sei eigentlich immer„eher so ein Einzelgänger“ gewesen. Während seiner kurzen Zeit im Obdachlosenheim in der Basedowstraße wurde ihm zu viel geklaut, erzählt er. Mit vier anderen obdachlosen Männern wohnte er dort zusammen. „Ich musste auf gut Deutsch scheißen, schon war mein Kochtopf weg“.

Klick, klick, klick. Rainer gewinnt den Kampf gegen den Wind. Seine Zigarette hat das Feuer doch eingefangen. Zwischendurch muss Rainer auf Toilette. Das Aufstehen fällt ihm sichtlich schwer. Er schiebt seinen Körper von der Matratze auf den Boden und drückt sich mit den Armen irgendwie empor. Wegen Durchblutungsstörungen fühlten sich seine Beine manchmal an, als seien sie taub. „Bald ist vom Sack abwärts alles abgestorben“, witzelt er. Erst wolle er aber sehen, was beim Doktor rauskommt. „Da wurde ich wie ein Brot in den Backofen geschoben“, so Rainer über seine CT-Untersuchung. Immerhin konnte er überhaupt sehen, wie es im Inneren des „Backofens“ aussieht. Bis vor Kurzem sei er drei oder vier Jahre nicht krankenversichert gewesen. Zum Glück sei in der Zeit nichts Schlimmes passiert.

Tagsüber liest Rainer viel, erzählt er. Die Bücher bekomme er aus dem Buchladen direkt gegenüber. „Was soll ich sonst den ganzen Tag machen?“ Er öffnet seinen Rucksack und holt das Buch „Kein Dach über dem Leben“ hervor. Es ist die Biografie von Richard Brox, selbst 30 Jahre lang obdachlos auf Deutschlands Straßen. „Morgen müssen wir wieder zu unserem Häuptling, Isabella“, sagt Rainer. Damit meint er den Termin bei seiner Sozialarbeiterin. Vielleicht reden sie dann auch über den 3. Mai. An diesem Tag ziehen er und Isabella in eine Zwei-Zimmer-Wohnung nach Fermersleben.