Ein konsequent inszeniertes Stück über kaputte Systeme und zerrissene Leben

Die Premiere von Im Menschen muss alles herrlich sein am Theater Magdeburg wurde ein Abend voll scharfkantiger Bruchstücke aus der Vergangenheit, die bis ins Heute hineinwirken.

Als wäre dies schon Teil der Inszenierung leuchtet ein Gebäude am Breiten Weg in den Farben Gelb und Blau. Der Eiserne Vorhang des Theaters ist zu Beginn der Vorstellung unten. Ein starkes Symbol, und historisches Sinnbild der Erzählung. Schließlich werden wir uns in den nächsten zwei Stunden in die Zeit der Sowjetunion, ihres Zerfalls und ihrer Nachwehen begeben. Nacheinander treten sechs Schauspieler*innen in einheitlichen, grauen Kostümen (Clemens Leander) auf, die an militärische Uniformen erinnern. Sie erzählen abwechselnd von einem Traum: Mütter und Töchter stehen in einer langen Schlange, sie klopfen sich gegenseitig an die Schulterblätter, aber sie sehen aneinander vorbei. Dieser Einstieg setzt den interpretatorischen Rahmen für das ganze Stück, denn die ewig währende Kaskade aus Klopfen, Umdrehen und Wegschauen ist Programm. Da ist eine große Vergeblichkeit zwischen den Generationen und den Menschen im Allgemeinen. Nachdem sich der Eiserne hebt, erscheint eine karge Wüste, aufgeschütteter Sand, ein Polylux, eine überdimensionale Plastikplane. Das Bühnenbild (Emilia Schmucker) als Gleichnis für die inneren Landschaften der Figuren. Irgendwie verlassen und seltsam unwirtlich. 

Im Menschen muss alles herrlich sein ist als Roman von Sasha Marianna Salzmann im September 2021 erschienen und wurde mit dem Hermann-Hesse-Literaturpreis ausgezeichnet. Er handelt von vier Frauen, Lena und ihrer Tochter Edi, sowie Tatjana und ihrer Tochter Nina. Ihre Geschichten zirkulieren durch die Sowjetunion der 1970er bis 90er Jahre, zwischen ukrainischen Industriestädten und russischen Badestränden, zwischen dem Kampf um Studien- und Arbeitsplätze und ungewollten Schwangerschaften, bis nach Deutschland der heutigen Zeit, wohin beide Mütter mit ihren Töchtern gehen, auf der Suche nach einer neuen Heimat, und womöglich nach einer neuen Identität. Dieser Wunsch scheint bei den Müttern gar nicht und bei den Töchtern eher unvollständig aufzugehen – alle bezahlen einen Preis dafür und schweigen darüber. Zu Lenas 50. Geburtstag sollen sich alle in Jena wiedertreffen. Während Edi nur widerstrebend beginnt, Fragen an ihre Mutter zu stellen, hat Tatjanas Tochter Nina jeden Kontakt zu ihrer Familie abgebrochen und verkriecht sich in Computerspiele. Geht es hier um einen Generationenkonflikt, wie oft im Feuilleton behauptet? Ja auch, aber nicht nur. Familiengeschichte wird hier zum Spiegel für politische Gezeiten. Während die Breschnew-Jahre vor allem Mangel, Stagnation und Korruption unter sozialistischem Leergestus produzierten, drehten die Jahre unter Gorbatschow die Menschen durch den „Fleischwolf“, oder spuckten sie letztlich zurück in den Devotionalienladen der Geschichte. Was blieb anderes übrig als die innere oder äußere Emigration? Versprechen wurden nichtig, Hoffnungen wurden enttäuscht, Bemühungen wurden sabotiert. Es ist also auch ein Text über die (explizit weibliche) postmigrantische Geschichte, die in Deutschland  ihren mitunter entwürdigenden Schlusspunkt hat, und die es anzuschauen und zu verstehen gilt. Denn da steckt auch einige Wut dahinter, wenn die Töchter ihren Müttern „Perestroika-Zombies“ oder „diktaturgeschädigte Jammerlappen“  entgegenschleudern und sich fragen, warum ihre Eltern rechte Parteien wählen. Der Text ist voll mit Symbolen und Bildern. So wird die Giraffe des Malers Niko Pirosmani, der noch nie eine Giraffe gesehen hatte, sie aber aus seiner Vorstellung heraus malte, zentrales Leitmotiv. Ein Lebewesen, zusammengesetzt aus Projektionen, irgendwie zerstückelt, nichts passt zusammen. So ist das auch mit den Biografien der Figuren, mit ihren Beziehungen, ihren Träumen von Deutschland oder sonst einer Idee von einem  besseren Leben.

Im Oktober 2022 kam eine Theaterfassung des Romans am Hamburger Thalia-Theater erstmalig zur Uraufführung. Nun auch eine weitere Fassung (Alice Buddeberg, Viktoria Göke) an einer ostdeutschen Bühne. Das ist nur folgerichtig. Schwierigkeit für das Theater besteht darin, aus einem epischen Text, noch dazu in einer stark bildhaften Sprache verfasst, einen dramatischen Text zu machen. Dies ist in Magdeburg zum Großteil gelungen, auch weil sich die Regisseurin Alice Buddeberg dafür entschied, vor allem aus der Perspektive von Lena zu erzählen. So tauchen alle anderen Figuren und deren Geschichten zwar immer wieder auf, umkreisen einander, konterkarieren sich, aber kehren doch zu Lena zurück. Durch den schnellen Wechsel der Szenen und Perspektiven, aber auch durch das Durchwechseln der Besetzung unabhängig von Geschlecht und anderen Zuschreibungen fällt es nicht immer leicht, den roten Faden zu behalten. Verwirrung ist vorprogrammiert. Aber wenn man sich auf das Anfangsbild einlässt, jede könnte die Tochter oder Mutter der nächsten sein, weshalb eine prismatische Polyphonie von Geschichten entsteht, ist diese Art zu Erzählen einfach nur konsequent. Und birgt ein ganz eigenes Potenzial in sich. Die Versatzstücke sind eine Annäherung an die Geschichten der Einzelnen, aber auch an eine Epoche, die womöglich in kein Geschichtsbuch passt, zu groß und widersprüchlich das Ganze, und sie dauert fort, zieht sich bis in den heutigen Ukraine-Krieg. Tatjanas Tochter Nina resümiert dazu fast schon lakonisch: „Das Einzige, was feststeht ist, dass es immer noch ein Nachbeben gibt. Und bei denen, die es am eigenen Leib erfahren haben, wackeln immer noch die Eingeweide. Oder sie leiden an einer Art Phantomschmerz: Das Land, in das sie hineingeboren wurden, ist schon amputiert, aber es schmerzt trotzdem noch.“ Nach der Hälfte des Stücks wird die Plastikplane im hinteren Bühnenraum heruntergerissen und Pirosmanis Giraffe wird sichtbar, überdimensioniert steht sie im Raum und eines wird deutlich: Wenn man die Versatzstücke zusammenbastelt, kann ein völlig neues Lebewesen entstehen. Ob es dann auch lebensfähig ist, bleibt offen.

Die Spielweise der Darsteller*innen (Mansur Ajang, Iris Albrecht, Anton Andreew, Marie-Joelle Blazejewski, Bettina Schneider und Isabel Will) ist ungewohnt unaufgeregt. Anstatt großer ausladender Gesten und angestrengter Stimmgewalt erleben wir die Darsteller*innen in allen Facetten des basal Menschlichen und Zwischenmenschlichen, eine wunderschön anmutende Mischung aus Zartheit, Verspieltheit und Konkretheit. Anstatt nostalgische Rollenklischees zu bedienen, setzt man hier ganz auf die Kraft der situativen Erzählung der Figuren. Mal wird es ungemein komisch, mal berührend, und manchmal wirkt das Spiel improvisiert-privat, um dann wieder Schwung zu nehmen für die nächste Runde. Man muss den Abend als Ensembleleistung würdigen, und es scheint sich hier am Schauspielhaus ein eigener Stil zu etablieren, der in Das Leben ein Traum bereits angelegt ist und nun geradlinig weiterverfolgt wird. Ähnlich wie der Inszenierungsansatz verspricht auch das ein spannendes Experiment zu sein und zu werden.

Sasha Marianna Salzmann fragte in einem anderen Text: „Aber wie kann man hier an Literatur denken, wie schreiben, solange der Krieg die Gegenwart bestimmt?“ Wahrscheinlich gibt es keine zufriedenstellende Antwort darauf, nur die Möglichkeit, Geschichten und Menschen sichtbar zu machen – und da hat gerade das Theater Möglichkeiten und vielleicht auch eine Verantwortung. Aber interessieren wir uns noch für den Ukraine-Krieg, oder ist er auf unserer Aufmerksamkeitsskala ganz nach hinten gerutscht? Und wenn ja, warum? Die letzten Sätze, die Lena ihrer Tochter mitgibt, sind eigentlich an uns gerichtet: „Pinguine oder der Krieg in der Ukraine. Genau. Dir ist es egal. Für dich sind das einfach nur Namen, irgendwelche Orte. Tschetschenien, Donbass, der Zoo. Ganz gleich, was passiert, es passiert nicht dir.“

Die ukrainischen Städte, die im Stück auftauchen, befinden sich aktuell unter russischem Beschuss. 

Text: Angela Mund (Bühnenfrei)

Fotos: Dorothea Tuch