5:30 Uhr am „Hassel“. Wenige Menschen, trockene Kälte, schwarzer Himmel und gelbes, blendendes Laternenlicht. All das lässt den Ort so einsam wirken wie sonst zu kaum einer Tageszeit. Vor den Bänken an der Sparkasse macht eine Plastiktüte so laut auf sich aufmerksam wie noch nie zuvor in ihrem kurzweiligen Leben. Sie raschelt, wandert und tanzt ganz alleine zum Takt des Windes. Für einen kurzen Moment ist sie die Attraktion des eigentlichen Magdeburger Kneipenzentrums. Momentan ist von bremsenden Straßenbahnen, hupenden Autos oder Sirenen nichts zu hören. Bald wird ihr Auftritt aber ein rasches Ende finden und sie wird von der Bühne verschwinden. Zum Glück. Wer von uns möchte schon über einen voll gemüllten Bürgersteig stolzieren?

© Lars Graue

„Das sind seine Toiletten.“, erzählt mir jemand, der sich mit Müll auf Gehwegen tagtäglich beschäftigt. Wir befinden uns direkt auf dem Hasselbachplatz, zwischen der Ausfahrt Liebig- und Sternstraße. Er deutet mit seiner rechten Hand in Richtung der Bäume am Rand der Liebigstraße, während er in aller Seelenruhe seine linke am Lenkrad behält. Der Mann redet über einen Obdachlosen, der regelmäßig sein Geschäft an ebenjenen Bäumen verrichtet. Egal zu welcher Tageszeit. „Der zieht einfach die Hose runter und macht da hin, während Kinder da zur Schule lang müssen.“. Seine Augen wandern im Zehntelsekundentakt von den Außenspiegeln nach vorne, von meinen Augen zu den Knöpfen zu seiner Rechten, von der Infrarot-Rückkamera wieder auf die Fahrbahn. Sein Name ist Mike, 39, und er sitzt neben mir an den Hebeln einer Kehrmaschine, die die Straßen um den Hasselbachplatz abfährt. Er hat kurz geschorenes Haar, ein Tattoo auf dem Arm

und eine rötliche Gesichtsfarbe – vermutlich wegen der morgendlichen Kälte. Trotz der frühen Uhrzeit wirkt Mike ausgeschlafen und auf der Höhe. Das muss er auch. Denn so langsam wacht der „Hassel“ auf – die Autos und Fahrradfahrer werden zahlreicher, die Menschen laufen auf den Gehwegen herum. Jede Sekunde könnten wir mit anderen Verkehrsteilnehmern kollidieren. Mike erklärt mir, dass nicht jeder dafür geschaffen sei, die Kehrmaschine zu fahren. Auch wenn er sich selbstbewusst anhört: Er hat recht. Immer wieder gucke ich skeptisch nach links und rechts, da in so manchen Gassen tatsächlich Maßarbeit gefragt ist. In drei Stunden hatte ich aber zu keiner Sekunde das Gefühl, dass Mike nicht weiß, wie er mit der Maschine umgeht. Obwohl er gleichzeitig meine Fragen beantwortet. „Kein Problem!“, sagt er mit Überzeugung und ein wenig Stolz auf die Frage, ob ihn meine Nachfragen von seiner Arbeit ablenkten.

Immer wieder kommt Mike auf den einen Obdachlosen zu sprechen. Dieser, das stellt Mike ausdrücklich in seinen ersten Sätzen über ihn klar, ist ein Extrembeispiel. Der Umgang mit ihm sei unheimlich schwer, besonders weil er kein Deutsch spreche. Seit Juni treibe er sich am Hasselbachplatz herum. Wahrscheinlich komme er aus Polen oder Russland, schätzt Mike. Als wir ein zweites Mal an dem Mann vorbeifahren, schläft er noch immer. Regungslos, umgeben von einem einzigen Chaos. Unzählige Gegenstände, die nichts miteinander gemein haben, liegen unter einem überdachten Hauseingang: ein Toaster, eine Lampe, vollgepackte Taschen, diverse Kleider und und und. Neulich habe Mike sogar alte DDR-Bücher im Gerümpel erkennen können, erzählt er. „Wie will der die denn lesen?“, fragt er mich, ohne dass er eine Antwort erwartet. „Das muss ein Messie sein!“, sagt er mit harter Stimme. Man muss kein Psychologe sein, um zu erkennen, dass Mike sich in chaotischer Umgebung nicht wohlfühlt. Am liebsten würde er den ganzen Kram beseitigen, meint er, aber das wäre wiederum Diebstahl. Obwohl niemand in ein Haus einbrechen müsste. Es wäre ein Einbruch in das Zuhause des Obdachlosen. Somit gebe es nur eine Option aus Sicht der Straßenreinigung: das Ordnungsamt benachrichtigen. Mike stellt sehr wohl heraus, dass er und seine Arbeitskollegen es hier mit Menschen zu tun haben. Trotzdem sei das Ausmaß des fabrizierten Chaos in diesem Fall einfach zu groß gewesen, um hier nicht einzugreifen.

Allgemein seien Obdachlose eine schwierige Thematik für die Straßenreiniger. Das Problem sei vor allem die Kommunikation. Mit den meisten könne man schlicht und einfach nicht reden. „Die sind fast alle voll wie ein Eimer“, erklärt Mike im Hinblick auf deren Alkoholkonsum. Man könne sagen was man will – es bringe einfach nichts. Auch sein Kollege Ingo, mit dem ich wenig später spreche, äußert sich ähnlich zum Umgang mit Obdachlosen. Die Straßenreinigung könne schließlich nicht viel machen, sondern nur „die vom Ordnungsamt“. Mitleid empfinde er zwar, dennoch sei jeder seines Glückes‘ Schmied und Obdachlose Bestandteil seiner Arbeit. „Ich mach‘ meinen Job und dann ist gut.“.

Apropos Job. Der des Müllmannes hat in den Köpfen vieler einen negativen Beigeschmack. Müll wird von den meisten Leuten mit etwas Schlechtem assoziiert. Mike grinst, als ich ihn mit der Frage konfrontiere, ob er ähnliche Gedanken hatte, bevor er bei den Abfallwirtschaftsbetrieben Magdeburg angefangen hat. Er hatte anscheinend mit der Frage gerechnet. „Nein, überhaupt nicht – im Gegenteil.“. Ihm gefalle der neue Job, den er seit einem Dreivierteljahr hat, außerordentlich gut. Deutlich besser als sein früherer. Zuvor hatte er, genau wie sein Vater, im Bergwerk gearbeitet. Vom Bergwerk spricht Mike allerdings nicht, sondern ausschließlich vom Schacht. Dort fehlte ihm der Kontakt zu anderen Menschen. „Hier“, also bei der Straßenreinigung, sei man regelmäßig „Auskunft für Bürger“. Zum Beispiel, wenn die Anwohner nach der korrekten Müllentsorgung fragen. Daraufhin guckt er zu mir rüber und erzählt, dass er sich schon oft auf seinen jetzigen Job beworben hat. In zehn aufeinanderfolgenden Jahren. Jetzt habe er eine deutlich angenehmere Arbeit, regelmäßige Pausen und Arbeitszeiten, dazu bereits um 14:30 Uhr Feierabend.

Zwischendurch fängt Mike an zu fluchen. Bereits zwei Mal waren wir in der Kehrmaschine über den Gehweg neben der Volkshochschule gefahren. Im Scheinwerferlicht offenbart sich jedoch, dass der eine Haufen Hundekot immer noch nicht vom Sauger unterhalb des Fahrzeugs eingesaugt wurde. „Zu schwer, das Häufchen!“, sagt er, während er auf einmal abrupt auf die Bremse tritt. Plötzlich erscheint ein junger Mann aus unseren Augenwinkeln. Er geht vor unserem Wagen vorbei und schaut uns mit einem Stirnrunzeln an. Der Mann sieht genervt aus. Solche Reaktionen erlebe Mike sicherlich jeden Tag. „Die meisten Leute sind aber wirklich in Ordnung.“. Bei vielen erkenne man, dass sie selbst gestresst sind und ihren Frust an ihm oder seinem Kollegen am Besen herauslassen würden. Schließlich, im dritten Versuch, erwischt Mike endlich das Häufchen.

Auch Ingo kann diesbezüglich von Ähnlichem berichten. Er hat auch schon weitaus mehr Erfahrung bei der Straßenreinigung als Mike – seit acht Jahren ist er bereits dabei, zuvor war er Maler und Lackierer. Er ist 40, dunkle graue Haare, Schnäuzer, Brille. Seine Aufgabe ist es, den Dreck und Müll mit dem Besen zusammenzufegen, den die Kehrmaschine anschließend einsaugt. „Zum Glück ist die Laubzeit vorbei“. So müsse er nicht so lange auf die Kehrmaschine warten, die zu dieser Zeit häufiger ausgeleert werden muss. Er versuche generell, die kleinen Probleme auf der Straße in einem guten Ton zu lösen. Sollte er mal beschimpft werden, nerve ihn das zwar für kurze Zeit, „aber wenn ich meine orangenen Sachen ausziehe, dann kann ich abschalten“. Es gebe immer mal wieder Momente, die ihm ein gutes Gefühl bereiten, ihm ein Lächeln abverlangen. „Zum Beispiel ist da die Friseurin, die nett aus dem Fenster winkt. Oder der Hausmeister, der einen freundlich grüßt.“ Noch während ich das Zitat aufschreibe, hat Ingo schon wieder die Straßenseite gewechselt, um den Gehweg auf der anderen Seite zu fegen.

9:45 Uhr. Inzwischen ist wieder alles beim Alten am „Hassel“ – Hektik ist eingekehrt. Als ich die

Straßenreiniger wieder verlasse, gehe ich noch einmal um den Platz und suche die Plastiktüte, die ich zu Beginn beobachtet hatte. Wie ich es vermutet hatte… ich finde sie nicht mehr wieder. Wahrscheinlich liegt sie in dem Container, in den Mike den eingekehrten Müll gekippt hatte. Oder jemand hat die Tüte benutzt, um das Häufchen seines Hundes zu beseitigen.

© Lars Graue

Von Lars Graue