Die Beobachtungen und Beschreibungen in dieser Reportage basieren auf den Eindrücken und Erlebnissen von Dorothee Keber.

Klappernd kommt das Fahrrad im Innenhof zum Stehen. Es ist still, nur der Wind streicht durch die Straße. Autos hört man hier nur selten. Der Eingang zum kleinen Mehrfamilienhaus befindet sich ganz hinten, auf der Rückseite des Gebäudes. Nummer 44a. Die Tür öffnet sich sofort, ohne fragendes „Hallo?“ aus der Sprechanlage. Drinnen riecht es nach Bohnerwachs. Schuhe stehen säuberlich aufgereiht nebeneinander, in der Ecke wächst eine Calathea. Ein gepflegter, freundlicher Eindruck. Leise schwingt die Wohnungstür im Erdgeschoss auf. Hier lebt Helga S. In zwei Wochen wird sie tot sein.

Das Pflegebett ist im Wohnzimmer aufgebaut. Auf dem Beistelltisch stehen Medikamente, Einweghandschuhe, eine Flasche Saft. Die großen Fenster führen zur Straße. Die Wohnung ist hell, die Möbel sind aus weichem Erlenholz. An den Wänden hängen zahlreiche Bilder von Impressionisten. Farbenfroh und lichtdurchflutet lassen sie ein Gefühl des Wohlbefindens entstehen. Neben dem Bett sitzt Dorothee Keber. Sie ist zum ersten Mal zu Besuch hier, wird aber noch häufiger kommen. So oft es geht. Seit fast zwei Jahren begleitet sie sterbende Menschen auf ihrem letzten Lebensabschnitt.

Das Sterben bringt unzählige Fragen mit sich. Fragen, die niemand mit endgültiger Sicherheit beantworten kann. Was passiert mit mir, wenn ich sterbe? Gibt es ein Leben nach dem Tod? Dorothee Keber hört solche Fragen häufig – und antwortet immer gleich. Erzählt davon, wie sie es sich vorstellt. Fragt nach den eigenen Vorstellungen. Lässt ein Gespräch entstehen, wie ein
Schachspiel. Hin und Her. „Man muss mit dem Thema so umgehen, dass es selbstverständlich wird. So nimmt man den Stachel.“ Für viele sei der Tod ein Tabu-Thema, sagt Keber, durch das viele Reden werde aber der Schrecken genommen.

Knapp jeder Zweite hat in Deutschland Angst vor dem Tod. Das ergab eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Insa. Die Angst vor starken Schmerzen während des Sterbens liegt sogar noch deutlich höher. In den meisten Fällen können durch die Palliativversorgung die Schmerzen gelindert werden. Aber längst nicht immer. Eine aktive Sterbehilfe hält Dorothee Keber daher für unbedingt notwendig. „Ich hoffe, dass es offiziell erlaubt ist, wenn ich mal in dieser Situation sein sollte“, sagt die 66-Jährige. „Gerade nachdem, was ich in den letzten beiden Jahren gesehen habe.“

Geistig ist Helga S. noch völlig da. Nur der Körper spielt nicht mehr mit. Krebs, erst besiegt und nun zurück. Helga S. hat keine Kraft mehr, keine Lust auf eine erneute Therapie. Sie ist sich ihrer Situation bewusst. Nimmt sie locker, fast schelmisch an. So scheint es. Gerne wäre sie noch an Orte gereist, die sie nie gesehen hat. „Das klappt jetzt nicht mehr“, sagt sie, „ich hab‘ ja nicht mehr lang.“ Dünn ist sie geworden, ihre Wangenknochen stechen deutlich hervor. Gegen ihre Schmerzen klebt ihr das Team
der ambulanten Palliativversorgung Morphium-Pflaster auf die Haut.

„Hospizarbeit ist eine sehr verantwortungsvolle Tätigkeit“, betont Dorothee Keber. Nicht nur den Todkranken werde dabei geholfen, auch die Angehörigen könnten so ein wenig Luft holen. „Die Dankbarkeit dieser Menschen, die sich verstanden fühlen, klingt in mir nach“, erzählt Keber. So wie die Vertrautheit, die sich zu einer völlig fremden Person entwickelt. Aber die Arbeit hat auch ihre Schattenseiten. Einem Menschen dabei zuzusehen, wie er von Besuch zu Besuch schwächer wird. Wie das Leben langsam, fast schleichend aus ihm weicht. Platz macht, für etwas, das wir nicht vollends begreifen können. Trauernde Angehörige, die nicht abschließen können, die hadern. Ein Gefühl von Ungerechtigkeit, das sich nur schwer abschütteln lässt. Am Anfang, erzählt Dorothee Keber, hätten sie die Erlebnisse und Begegnungen sogar bis in ihre Träume verfolgt.

Von dem Tod von Helga S. erfährt Dorothee Keber per Telefon. Fünfmal konnte sie für ein paar Stunden an ihrer Seite sein. Sie haben viel erzählt, auch lachen können. Über Kunst, gemeinsame Bekannte oder die Veränderungen in der Stadt. Über den Tod und das Leben. Gerne wäre sie auf der Beerdigung dabei gewesen. Doch die Tochter von Helga S. meldete sich nicht mehr auf Rückfragen. „Das darf man nie persönlich nehmen“, betont Keber, „jeder geht mit dem Tod anders um. Darauf sind wir vorbereitet“. Bei einem anderen Fall hielt sich der Kontakt zu den Angehörigen noch eine Weile. An Weihnachten wurden ihr selbstgebackene Plätzchen überreicht. „Das sind teilweise schon riesige Unterschiede“, sagt die 66-Jährige.

Ein guter Freund von Dorothee Keber wurde im Hospiz begleitet. Schwerkrank, kurz vor dem Ende seiner Lebens- und Leidenszeit. „Ich habe gesehen, wie gut ihm das damals getan hat“, erzählt sie. Wie einfühlsam und freundlich alle waren. Der Hauptgrund, warum sich Keber für die Ausbildung zur „Lebensbegleitung für schwerkranke und sterbende Menschen“ entschieden hat. Eine Entscheidung, die sie nie bereut hat. Ein ganzes Jahr dauert die Ausbildung, die theoretische und praktische Inhalte vermittelt.

Neben der stationären Hospizarbeit, bei der die sterbenden Menschen rund um die Uhr in einer Einrichtung betreut werden, gibt es die ambulante Arbeit, so wie bei Helga S. Hier werden die Betroffenen in den eigenen vier Wänden besucht, in der gewohnten Umgebung. Vielen erleichtert das die Situation. Die Art und Weise der Begleitung hängt vom Zustand der Sterbenden ab. Sofern möglich, gehen sie noch gemeinsam spazieren oder besuchen eine Theateraufführung. Alte Orte werden noch einmal neu entdeckt. Bewusst ist dabei allen eines: Sie werden in naher Zukunft nicht mehr leben.

Früher, da hatte Dorothee Keber viel mit Kindern zu tun. Half beim Kinderschutzbund am Sorgentelefon. Arbeitete als Lehrerin mit Kindern und Jugendlichen. Lernte unterschiedlichste Menschen und Schicksale kennen. Zog selbst drei Kinder groß. Nun im Rentenalter, will sie sich auch mal Zeit für Senioren nehmen. Und für sich selbst? „Ich habe ein Helferinnensyndrom“, lacht sie.

Für jede Stunde, die ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin mit einem sterbenden Menschen verbringt, bekommt das Hospiz Geld von der Krankenkasse – allerdings erst, wenn die Person verstorben ist. Aber nicht nur todkranke Menschen werden begleitet, auch einsame Menschen im Seniorenheim. „Manchmal kriegen wir einen Anruf: hier ist jemand monatelang nicht besucht worden, könnt ihr jemanden vorbeischicken?“ Für diese Stunden gibt es allerdings kein Geld. Dorothee Keber wünscht sich daher eine größere finanzielle Unterstützung für ehrenamtliche Hospizarbeit. Es müsse zudem deutlicher werden, dass Hospize auf Spenden angewiesen seien.

Sterbebegleitung ist nicht für jeden Menschen, der sich ehrenamtlich engagieren möchte, das Richtige. „Man braucht das nötige Fingerspitzengefühl“, sagt Keber. Dennoch ist sie sich sicher, dass noch mehr möglich sei. Sie glaubt, dass sich viele Menschen diese Arbeit nicht zutrauen – zu Unrecht. Sie für ihren Teil ist sehr froh darüber, dass sie den Mut gefunden hat, es zu probieren. Denn: „Am Ende des Tages bekommen wir mehr zurück, als wir geben.“

Dorothee Keber hat in den letzten beiden Jahren viel Zeit, Gedanken und Gespräche rund um den Tod verbracht. Angst vor ihm hat sie keine mehr. Sie glaubt sogar an einen schönen Tod. „Ja, sowas gibt es“, sagt sie bestimmt. „Friedlich Einschlafen und nicht mehr wach werden, das ist mein Traum vom Sterben – aber bitte erst mit 99“.

© Erik Maurer