»So saß sie mit geschlossenen Augen da und glaubte fast, selber im Wunderland zu sein, und dabei wusste sie doch, dass sie ihre Augen nur wieder aufzumachen brauchte, und alles wäre so langweilig wie immer […].«
(Lewis Carroll, Alice im Wunderland)

Es steht außer Frage, dass das Theater Magdeburg seine Zuschauer:innen in andere Welten zu entführen vermag. Einige dieser Welten schaffen es, das Herz zu erwärmen, andere wiederum, sich der real existierenden Gewalt um einen herum bewusst zu werden. Sei es nun die verschneite Märchenlandschaft („Die Schneekönigin“) oder die düstere Videospielewelt („Woyzeck“), allen ist ein fantasievoller und formstarker Zugriff auf literarische, mitunter musikalische Stoffe gemein.

Stefan Sevenich, Alison Scherzer, Dogukan Kuran, Emilie Renard, Sarah Alexandra Hudarew © Andreas Lander

Zum Höhepunkt der Opernsaison hätten Generalintendant und Regisseur Julien Chavaz und sein Team auf keinen fantasievolleren Stoff zurückgreifen können. Von der Bühne des Magdeburger Opernhauses aus begibt sich die junge Alice auf eine fantastische Reise ins Wunderland, eine Reise voller nie gekannter Abenteuer und wundersamer Begegnungen.

Alison Scherzer © Andreas Lander

Die Geschichten um Alice, dem weißen Kaninchen, der grinsenden Katze und weiteren absurd-witzigen Gestalten beruhen auf den beliebten Kinderbüchern aus den Jahren 1865 und 1871 des britischen Schriftstellers Lewis Carroll. Der irische Komponist Gerald Barry vertonte Carrolls Fantasiewelt in ein gerade einmal einstündiges Opernvergnügen. Nach der erfolgreichen szenischen Uraufführung 2020 am Royal Opera House in London ist „Alice im Wunderland“ seit dem 06. Mai 2023 als deutschsprachige Erstaufführung im Opernhaus in Magdeburg zu erleben.

Wir sind dem Ruf des weißen Kaninchens, ähm pardon des Spielplans, gefolgt und möchten auf einen wahnwitzigen und kurzweiligen Premierenabend zurückblicken, der die Seh- und Hörgewohnheiten des Publikums so ordentlich durchschüttelte.

Die Bühnenbildnerin Anneliese Neudecker und die Kostümbildnerin Severine Besson konstruieren ein Wunderland, dass sich den Grenzen einer auf Struktur und Logik aufbauenden Welt entzieht. Ein Wunderland, das so vielfältig, verrückt und verträumt daherkommt und sich dennoch selbstbewusst von der Ästhetik der bekannten Disney-Verfilmungen zu unterscheiden weiß. Unter dem Einsatz der Drehbühne und eines hängenden Bühnenbildes finden fast schon im Minutentakt fulminante Szenenwechsel statt. Eine Szene verrückter als die andere. Die Kreativität der Ausstattung scheint kein Ende nehmen zu wollen.

Die ganze Inszenierung lebt von einem ungemeinen, gar elektrisierenden Tempo, welches die Zuschauenden auf Trapp hält, herausfordert und ihre Neugierde immer wieder aufs Neue entfacht. Zu keiner Zeit kommt Langeweile auf.

Adam Temple-Smith, Stefan Sevenich, Emilie Renard, Alison Scherzer, Sarah Alexandra Hudarew, Adrian Dwyer, Dogukan Kuran © Andreas Lander

Auch musikalisch weiß sich diese Oper von anderen Musikstücken abzusetzen. Was in den ersten Momenten disharmonisch und experimentell klingt, zündet nach wenigen Minuten in einen Motor voller unbändiger Energien und Ideenreichtum. Sicherlich sind das keine Ohrwurmmelodien, die man dann auf dem Nachhauseweg fröhlich vor sich hin summt. Wer die sucht, sollte sich lieber für eine Oper der italienischen Altmeister oder Mozarts entscheiden. Hier wird sich an neuen musikalischen Ausdrucksformen versucht, bei denen sich die Geschmäcker scheiden werden.

Die Magdeburger Philharmonie unter der Leitung von Jérôme Kuhn spielt herausragend und die gerade einmal sieben Solist:innen spielen und singen sich routiniert und bravourös durch ein visuelles und stimmliches Repertoire von über 30 Figuren. Allen voran die Sopranistin Alison Scherzer als Alice zieht mit ihrem trotzig-naiven Spiel und ihren glasklaren Koloraturen die Begeisterung vieler Zuschauenden auf sich.

Zum Luft holen kommt an diesem Abend niemand, weder die Künstler:innen auf der Bühne und im Orchestergraben, noch die Crew im Hintergrund, noch die Zuschauenden im Saal.

Ensemble, Stefan Sevenich © Andreas Lander

Das Werk funktioniere wie eine Geisterbahnfahrt, erklärt Julien Chavaz in einem Artikel des MDR Kultur. Das trifft den Nagel gut auf dem Kopf. Diese Opernaufführung ist rasant, bizarr und auf ihre ganz eigene Art komisch.

So wie es viele Menschen gibt, die gerne mit Geisterbahnen fahren, so gibt es Menschen, die dem lieber eine gemütliche Karussellfahrt vorziehen oder dem Rummel am liebsten gänzlich fernbleiben. Die Geschmäcker sind sehr verschieden und diese Aufführung fordert sie heraus und polarisiert. Nicht zuletzt hat sie das Potenzial, neue Räume und Möglichkeiten für das Musiktheater zu öffnen.
Und kann es nicht bereichernd sein, wenn Stücke uns aus unserer Komfortzone, aus unserer Zone des Gewohnten und Geschätzten, herauslocken? Wenn ganz unterschiedliche, gar gegensätzliche Meinungen aufeinanderprallen, sich begegnen? Wenn daraus enthemmte wie auch lebhafte Diskussionen über die Aufgaben, Möglichkeiten und Grenzen des Theaters enstehen?

Sarah Alexandra Hudarew, Alison Scherzer, Emilie Renard © Andreas Lander

Wir können und möchten euch an dieser Stelle nur herzlichst dazu ermutigen, eure Erwartungen und Vorstellungen über Opernmusiken und Theaterabende zuhause einzuschließen, und euch auf dieses musikalisch-theatrale Experiment einzulassen. Wir können nicht versprechen, dass es euch gefallen wird, wahrscheinlich eher nicht oder höchstwahrscheinlich doch? Findet es doch einfach selbst heraus und berichtet uns gern davon in den Kommentaren unter dem Beitrag oder auf unseren Social-Media-Kanälen!

Die nächsten Vorstellungen von „Alice im Wunderland“ laufen am Samstag, den 27. Mai und am Sonntag, den 04. Juni, jeweils um 19.30 Uhr im Opernhaus. Tipp: Die Aufführung am 04. Juni ist unter „Netter Preis“ ausgewiesen. Jede Karte kostet nur 20 Euro. Weitere Informationen zum Stück, zu den Vorstellungsterminen und Eintrittspreisen gibt es wie immer auf der Webseite des Theater Magdeburg.

Zum Trailer der Produktion:

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