Ein Gespräch zur Performance „Kosmos #1: ZUNGEN BRECHEN“ am Schauspielhaus Magdeburg

Kosmos = das Universum, das gesamte Weltall. Oder: Ein ehemaliges Kino im Bezirk Friedrichshain von Berlin. Danke, Wikipedia.

Maria Nübling (Dramaturgie): Alles, was die Welt beinhaltet.

Leonie Jenning (Regie): Kosmos ist das Gegenteil von Chaos. Beide bedingen einander und nur zusammen ergeben sie eine Dynamik, die Neues hervorbringen kann.

Martha Mechow (Regie): Chaos kann fruchtbar und konstruktiv sein.

Die Regisseurinnen Leonie Jenning, Martha Mechow und der Sounddesigner Sebastian Dieterle © Kathrin Singer

Das Chaos regiert die Welt und momentan die Kammer 2 im Magdeburger Schauspielhaus. Die Bühnen- und Kostümbildnerin Nina von Mechow entwirft eine dreigeteilte Raumbühne. Die Grenzen zwischen Spielenden und Zuschauenden verschwimmen, werden aufgebrochen. Neue Verbindungen können eingegangen werden. Die Zuschauenden brauchen sich erst gar nicht darauf freuen, es sich im bekannten Theatersessel gemütlich machen zu können. Sie sind freie Teilchen. Sie verantworten ihren ganz eigenen Theaterabend, entscheiden, welchen Stimmen sie wann und wie lange lauschen wollen, wie viel Nähe sie zu den Spielenden als auch zu den anderen Zuschauenden zulassen möchten. Alle manövrieren durch ein inhaltliches Chaos, es wird keine einheitliche, allgemeingültige Erzählung geben. Sie konstruieren für sich eine Ordnung, einen Kosmos, Kosmos #1.

Mit der multimedialen Performance „Kosmos #1: ZUNGEN BRECHEN“ feiert das Schauspielhaus Magdeburg am Samstag, den 10. Juni 2023, nicht nur seine letzte Premiere in dieser Spielzeit, sondern auch den Start einer neuen Veranstaltungsreihe, die neue Formen der Zusammenarbeit am Theater erproben möchte. Für gewöhnlich bekleidet die Regieposition die Aufgabe der Ideengeber:innen. Bühne, Kostüme, Musik, Choreografie und Dramaturgie arbeiten der Regie zu. Diese Machtverhältnisse werden dahingehend verhandelt und durchbrochen, indem Künstler:innen, die nicht als Regisseur:innen oder Schauspieler:innen aktiv sind, der Raum gegeben wird, eigene Perspektiven zu artikulieren und diese in einem selbstzusammengestellten Team für die Theaterbühne zu bearbeiten.
Das Theater Magdeburg hat für die erste Produktion in der Kosmos-Reihe Nina von Mechow eingeladen, deren Ausstattungsarbeiten sie u.a. schon ans Deutsche Schauspielhaus Hamburg, ans Burgtheater Wien oder an die Opéra Bastille Paris führten.

Zusammen mit dem Regisseurinnen-Kollektiv „Bäckerei Harmony“, bestehend aus Leonie Jenning und Martha Mechow, sowie dem Sounddesigner Sebastian Dieterle entwickeln Nina von Mechow und ihr Team einen Theaterraum, der sich in diskursiven, musikalischen und theatralischen Fragmenten dem Medea-Mythos zuwendet.

Anton Andreew © Kerstin Schomburg

Oktay Önder © Kerstin Schomburg

Philipp Kronenberg © Kerstin Schomburg

Wikipedia: Eine Frauengestalt der griechischen Mythologie; Zauberkundige Tochter des Königs Aietes von Kolchis, einer antiken Landschaft an der Ostküste des Schwarzen Meeres. Medea verhilft den Argonauten, einer Schar [sogenannter] Helden, zum Diebstahl eines verzauberten Fells und heiratet ihren Führer Iason. Später verlässt er sie und ihre gemeinsamen Söhne, woraufhin Medea ihre Söhne und Iasons neue Geliebte ermordet.

In der bekanntesten literarischen Bearbeitung durch den griechischen Dramatiker Euripides wird Medea als eine obskure und rachsüchtige Kindsmörderin verunglimpft. Doch können und wollen wir Euripides und Wikipedia glauben? Was hat es mit ihren Ansprüchen einer ultimativen und allgemeingültigen Erzählung auf sich? Ist eine solche möglich oder gibt es nicht eher verschiedene Wahrheiten, die sich nicht zuletzt aus Lücken, Ambivalenzen und zeitlichen Kontextualisierungen einer Erzählung ergeben? Und welche Rolle spielt eigentlich die Perspektive oder die Machtposition, aus der heraus eine Erzählung aufgeschrieben oder in einem theatralen Raum ausgesprochen wird?

An diesen und weiterführenden Fragestellungen knüpfen die beiden Regisseurinnen Leonie Jenning und Martha Mechow in ihrer Auseinandersetzung mit der Medea-Figur an. Von besonderem Interesse ist die Frage nach der Repräsentation und der Frage danach, was passiert, wenn Menschen über eine Person sprechen, die es so nicht gegeben hat, die eine Leerstelle, eine Konstruktion der Fantasie ist. Um entscheiden zu können, was aufgeschrieben und erzählt wird, wessen Perspektive eine Gewichtung erfährt und was einen Zeiten überdauernden Mythos konstituiert, sind Definitionsmächte notwendig. Diese wiederum sind an Kategorien, wie beispielsweise Geschlecht, kultureller oder sozio-ökonomischer Herkunft gekoppelt. Während die Medea-Figur zu allen Zeiten ein Fremdkörper im System darstellen würde, passt der heraufbeschworene Mythos in alle Systeme, die sich diesen für das eigene Wertesystem zunutze machen wollen.

Oktay Önder, Philipp Kronenberg © Kerstin Schomburg

Einen wichtiger Bezugspunkt für ihre Überlegungen ist Christa Wolfs 1996 erschienener Roman „Medea.Stimmen“. Der Roman besteht aus elf inneren Monologen, in denen sechs Beteiligte ihre Versionen der Geschichte erzählen. Wolf bricht die lineare und vermeintlich allwissende Erzählstruktur auf und ersetzt diese durch eine Vielstimmigkeit und Widersprüche. Die Entstehung des Mythos wird hinterfragt und die Ereignisse werden überschrieben. Wolfs Medea kann als eine unkonventionelle und starke Frau gelesen werden. Nicht wenige Rezeptionen sprechen ihr auch autobiographische Bezüge zu. Die Wahrheit liegt bekanntlich irgendwo dazwischen und für jede:n woanders.

Dieses Muster hat das Kosmos-Team nicht nur inhaltlich, sondern auch formal inspiriert. Die Vielstimmigkeit und Nichtlinearität schreibt sich in die Raumgestaltung und ins Spiel ein. Auf der Raumbühne mit ihren verschiedenen Settings laden die Schauspieler Anton Andreew, Philipp Kronenberg und Oktay Önder, sowie die Opernsängerin Anna Malesnza-Kutny die Zuschauenden dazu ein, ihnen zu folgen, sich von ihnen abzuwenden, weiterzugehen und sich so eine eigene Erzählung zu bilden. Die Zuschauenden sind also aufgerufen, dem Abend mit maximaler Neugierde zu begegnen.

Und mit dem richtigen Outfit! Das Produktionsteam weist bei der Kleiderwahl darauf hin, dass der Raum mit einem Spiegelboden ausgestattet sein wird. Womit die Zuschauenden auf jeden Fall punkten können, so Leonie und Martha mit einem dezenten Grinsen im Gesicht, ist Silber, Pailletten und ganz viel Glitzer!

Anton Andreew, Philipp Kronenberg, Oktay Önder © Kerstin Schomburg

Die Premiere von „Kosmos #1: ZUNGEN BRECHEN“ am 10. Juni ist bereits ausverkauft. Bis zum Ende der Spielzeit sind zwei weitere Vorstellungen, zum einen am Freitag, den 16. Juni, und zum anderen am Samstag, den 17. Juni, jeweils um 19.30 Uhr angesetzt. Das Wiederaufnahmedatum für die Spielzeit 2023/24 folgt.

Heißer Tipp: Für die Vorstellung am 16. Juni verlosen wir in Kooperation mit dem Theater Magdeburg 1 x 2 Gästelistenplätze. Mitmachen könnt ihr bis zum 11. Juni. Klickt euch hierfür einfach auf unsere Gewinnspiel-Seite!

Alle Informationen zu den Aufführungen gibt es wie immer auf der Webseite des Theater Magdeburg.

Text: Tobias Bachmann